Aleida Assmann wird am Montag in Wien mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring auszeichnet und hält aus diesem Anlass einen Vortrag zum Thema "Auf dem Weg zu einem kollektiven europäischen Gedächtnis".

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DER STANDARD: Sie werden am Montag in Wien mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring auszeichnet und aus diesem Anlass einen Vortrag zum Thema "Auf dem Weg zu einem kollektiven europäischen Gedächtnis" halten. Wo stehen wir 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf diesem Weg?

Assmann: Europa hat zwei Gründungsereignisse: den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und anderer faschistischer Regime 1945 und den Zusammenbruch der Sowjetunion 1989. Der 8. Mai und der 9. November sind also zwei wichtige Erinnerungsdaten für Europa, die noch stärker für das Bewusstsein einer sowohl getrennten als auch gemeinsamen Geschichte in Anspruch genommen werden könnten. Diese Erinnerung spaltet aber auch, weil die historische Erfahrung der ehemaligen Ostblockstaaten eine andere ist als die des westlichen Europa. Sie wurden nicht am 8. Mai 1945 befreit, sondern erst am 9. November 1989.

DER STANDARD: Zur Überbrückung dieser Spaltung bauen manche auf die Habsburgermonarchie. Taugt das Ihrer Meinung nach etwas?

Assmann:  Europa ist nicht nur ein Wirtschaftsverbund, sondern auch eine "vorgestellte Gemeinschaft" . Bei diesen Vorstellungen spielen historische und real existierende Modelle eine wichtige Rolle. Ein solches Modell, das immer wieder herangezogen wird, ist die Schweiz, ein anderes ist der Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie mit ihrem Reichtum an Ethnien, Sprachen und Kulturen. Beides sind wichtige Alternativen zum homogenen Nationalstaat. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich allerdings der Begriff des Nationalstaats grundlegend geändert. Deshalb streben heute Nationen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts revolutionär aus dem Verbund der Donaumonarchie befreit haben, am Ende des 20. Jahrhunderts wieder unter das Dach der EU.

DER STANDARD: In Österreich war die EU-Skepsis besonders hoch. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Assmann: In Österreich gibt es noch eine andere Tradition als den Vielvölkerstaat, und das ist die Neutralität, der Wunsch und das Privileg, sich selbst als unbeteiligt und unbehelligt zu sehen. Auf dieser Basis ist Österreich inzwischen zu einem Nationalstaat mit einem starken positiven Selbstbild geworden. In puncto Nationalbewusstsein steht Österreich in Europa an der Spitze. Ein solches Österreich wird in dem Maße ein starker Partner für die EU, wie es neben Mozartkugeln und den Alpen auch seine post-monarchische Geschichte anerkennt und annimmt.

DER STANDARD: Sehen Sie Anzeichen, dass die gegenwärtige Krise des Finanz- und Wirtschaftssystems zu einer weiteren Europäisierung Europas beitragen kann? Oder könnte das nationalistische Tendenzen wieder verstärken?

Assmann: Wohl beides. Wir haben erlebt, dass im Fall von Krisen - Terroranschlägen, Umweltkatastrophen, Finanzcrashs - der Nationalstaat weiterhin gefragt ist als Akteur des Handelns und der Übernahme von Verantwortung. Aber gerade in solchen Situationen zeigt sich auch die Reichweite der Solidarität gegenüber kleineren Staaten wie zum Beispiel Irland.

DER STANDARD: Wo liegen für Sie - auch angesichts eines möglichen EU-Beitritts der Türkei - die Grenzen der Idee Europa bzw. einer europäischen Erinnerungskultur?

Assmann: Die Außengrenze Europas gegenüber der Türkei kann man in einer doppelten Perspektive sehen: als Bollwerk gegen das Fremde oder als Brücke zum Fremden. Diese Entscheidung muss jeder nach eigener Haltung und Überzeugung treffen. Ich tendiere zur zweiten Lösung.

DER STANDARD: Wie halten Sie es mit der Idee der Weltgesellschaft? Sollten wir nicht eher diese anstreben?

Assmann: Die Weltgesellschaft entsteht aus der Überschreitung von Grenzen. Wirtschaft, Verkehr und Kommunikation setzen sich über territoriale und politische Grenzen hinweg, schaffen aber keine belastbaren Bindungskräfte. Die Weltgesellschaft mutet den Europäern deshalb emotional nicht zu viel zu, sondern unterfordert sie. Was sich im Nebel der Abstraktionen verliert, mobilisiert keine Gefühle und damit auch kein Engagement.

DER STANDARD: Kann Europa eine solche Gefühlsmobilisierung leisten? Oder doch besser der eigene Staat?

Assmann: Die optimale Betriebsgröße für das politische Management von Wir-Gefühlen scheint nach wie vor die Nation zu sein, wo territoriale Verankerung und politische Repräsentation noch sinnfällig erfahrbar sind. Vor allem ergeben sich auf dieser Ebene Chancen einer realen politischen Partizipation. Das europäische Wir-Gefühl kann deshalb die nationale Ebene nicht einfach überspringen, sondern muss diese einbeziehen und aus einem monologischen Neben- und Gegeneinander in ein transnationales Beziehungsgefüge verwandeln.

DER STANDARD: Apropos Monolog: Wie hinderlich ist eigentlich die Sprachvielfalt Europas, gerade im Hinblick auf die Herausbildung einer europäischen Identität?

Assmann: Das ist ein eher trauriges Kapitel. Ich denke da an den Niedergang des Französischen im Schatten des Aufstiegs des Englischen zur Weltsprache. Gerade ist in Süddeutschland wieder eine Initiative gescheitert, die im Grenzgebiet zu Frankreich die Sprache der Nachbarn als erste Fremdsprache in den Schulen einführen wollte. Dieser löbliche Impuls der Politiker scheiterte an dem Einspruch der Eltern: Sie fürchteten einen Wettbewerbsnachteil für ihre Kinder. Ich selbst profitiere als Anglistin von dem globalen Trend zum Englischen. Ich bedaure aber auch, dass mein Schul-Französisch auf einem passiven Niveau steckengeblieben ist.

DER STANDARD: Sie sind auch Literaturwissenschafterin. Welche Rolle kommt der Literatur bei der Europäisierung Europas zu? Gibt es überhaupt so etwas wie europä-ische Literatur?

Assmann: Es gibt durchaus europä-ische Autoren und Autorinnen. Dazu gehören für mich paradoxerweise jene Amerikaner, die in den 20er- Jahren im freiwilligen Pariser Exil lebten wie Gertrude Stein oder Autoren wie James Joyce, der nur über seine Heimat Dublin geschrieben hat, aber dies außerhalb Dublins und auf eine exemplarisch kosmopolitische Weise. Als ein heutiges Beispiel möchte ich Nobelpreisträger Orhan Pamuk nennen.

DER STANDARD: Apropos Preisträger: Gibt es etwas, das Sie mit Paul Watzlawick, dem Namensgeber des Ehrenrings, verbindet?

Assmann: Ich habe das Glück gehabt, Watzlawick in Dubrovnik bei einem unvergesslichen Vortrag zu erleben. Er erzählte die Geschichte von drei Brüdern, die eine Herde von 17 Kamelen aufteilen sollten: Der älteste sollte die Hälfte, der mittlere ein Drittel und der jüngste ein Neuntel erhalten. Sie scheiterten, bis ein vorbeiziehender Nomade Rat wusste: Der stellte sein Kamel dazu, die Teilungsoperation ging auf, und ein Kamel blieb übrig, auf dem der Weise davonritt. Diese Geschichte erläutert das Prinzip der (paradoxen) Intervention: Durch einen Impuls von außen kann Bewegung in ein festgefahrenes System gebracht werden. (Klaus Taschwer/DER STANDARD-Printausgab 28./29. März 2009)