Richter Andreas Hautz klagt über "krasse Unterbesetzung" . Wegen des steigenden Arbeitsaufkommens in der Justiz drohen Fälle liegenzubleiben.

Foto: Standard/Fischer
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Viel Platz für Gäste, den Parteienverkehr, wie es im Amtsdeutsch heißt, bleibt nicht. Auf und unter dem kleinen Tisch rechts neben der Tür liegt ein gutes Dutzend an Aktenstapeln. Auf der linken Seite des rund 12 Quadratmeter großen Büros sind auf einem kleinen Teppich weitere 15 Stapel fein säuberlich aufgebreitet. Eine Handvoll Stapel, offenbar die zuletzt bearbeiteten, liegen auf dem Schreibtisch des Staatsanwaltes, der auf organisierte Kriminalität spezialisiert ist. Viel Papier, dabei geht es nur um zwei Fälle.

Der Standard macht einen Lokalaugenschein im Grauen Haus in der Wiener Landesgerichtsstraße. Hier hat nicht nur das Landesgericht seinen Sitz, sondern auch die rund 90 Wiener Staatsanwälte. Gemeinsam mit den Richtern warnen sie seit Wochen vor einem Kollaps in der Justiz. Zu wenig Personal, immer komplexere Fälle, verbunden mit zu viel Bürokratie, führen zu immer mehr Arbeit. "Mittlerweile ist hier auch am Samstag und Sonntag reger Betrieb" , sagt ein junger Staatsanwalt. "Jedes Wochenende bin ich nicht hier, aber jedes zweite schon" , sagt ein anderer. Und: "Wenn jeder nur 40 Stunden arbeiten würde, wäre hier schon alles zusammen gebrochen" , meint eine dritte. Zusatz: Überstunden werden selbstverständlich nicht bezahlt.

Flut an Anzeigen

Mit Medien dürfen die weisungsgebundenen Staatsanwälte offiziell gar nicht sprechen. Dafür ist Sprecher Gerhard Jarosch zuständig: Er schildert die Situation so: Statistisch gesehen, landen jährlich gut 210.000 Anzeigen der Polizei auf den Schreibtischen der Staatsanwaltschaft. Pro Staatsanwalt und Tag ergibt das elf Anzeige. Das Problem dabei: Bei den Anzeigen handelt es sich mitunter um Dinge wie das Bawag-Verfahren, das einen Anklagevertreter monatelang bindet - und die Arbeitsbelastung für die anderen erhöht.

Die "Gefahr" derartig großer Verfahren sei in einer Metropole bedeutend höher als in den Bundesländern. Dazu kommen Krankenstände sowie Aus- und Umsteiger. "Anzeigen wegen Taschendiebstahls gegen unbekannte Täter sind mittlerweile reine Routine, die innerhalb weniger Minuten eingestellt werden" , sagt Jarosch.
Viele seiner Kollegen kommen mittlerweile bereits um 7 Uhr ins Büro, oft sitzen sie dann bis 22 Uhr. "In der Früh und am Abend kann man wenigstens in Ruhe arbeiten" , sagt der junge Staatsanwalt, der anonym bleiben will. Tagsüber komme man seit der Reform der Strafprozessordnung zu nichts mehr.

Seit Jänner 2008 sind die Staatsanwälte nämlich "Herr des Ermittlungsverfahrens" (siehe "Wissen" ). Sie haben damit viele Aufgaben der Untersuchungsrichter übernommen, die aber mit großem Verwaltungsaufwand verbunden sind: Der Schriftverkehr der U-Häftlinge muss überwacht werden, jeder Besucher muss persönlich zum Staatsanwalt. Wird ein Antrag auf Haftbefehl gestellt, was bei großen Suchtgiftverfahren schon fünfzehnmal an einem Tag passieren kann, muss dazu ein dreiseitiges Formular ausgefüllt werden. "Früher war das ein Zweizeiler, jetzt ist es eine stundenlange Tätigkeit."

Zu einem wahren Zettelkrieg kann auch ein einfacher Verkehrsunfall werden. Da jedes Opfer verständigt werden muss, wenn ein Sachverständiger beauftragt wird, vergeht oft ein Monat, bis der Fall inhaltlich behandelt werden kann.

Der Ressourcenmangel zeigt sich aber auch in kleinen Dingen. Gab es früher eigene "Aktenträger" , fahren die Staatsanwälte jetzt selbst mit kleinen Wagerln durch die langen Gänge des Grauen Hauses. "Das kostet zwar immer nur ein paar Minuten, summiert sich aber auch." Und eigene Computer für die Rechtspraktikanten gibt es auch kaum. "Manche schreiben mit der Hand, andere bringen ihren eigenen Laptop mit" , sagt eine Staatsanwältin resignierend.
Ein paar Straßenzüge weiter, im Justizpalast, arbeiten die Richter des Oberlandesgerichts (OLG) Wien. 80 gibt es, 20 davon sind für Strafsachen zuständig. Der Gang im dritten Stock des Gebäudes ist gewienert, niemand kann ahnen, dass sich in den Zimmern dahinter die Akten türmen. "In der Kanzlei ist kein Platz mehr. Der Nebenraum ist vollgestopft" , beschreibt Richter Friedrich Forsthuber die Situation. In seinem Zimmer liegt ein sogenannter Fortsetzungsakt über eine Wirtschaftscausa: zwölf Bände à 500 Seiten. Und damit den Richtern nicht fad wird, kommen ständig neue Akten nach. "Ich habe 15 offene Akten, täglich kommen ein oder zwei dazu" , sagt Amtskollege Johannes Jilke. Um in der Flut nicht unterzugehen, gibt es eine Art Ranking: Haftsachen werden immer vorgezogen, hier gilt ein Beschleunigungsgebot. Für den Rest kann das aber wiederum bedeuten: Bitte warten!

Berge von Akten

Seit der Einführung der Strafprozessreform Anfang 2008 machen vor allem sogenannte Fortführungsanträge - legt die Staatsanwaltschaften Anzeigen zurück, kann die Fortsetzung des Verfahrens von den Opfern beantragt werden - den Richtern das Leben schwer. "Krasse Unterbesetzung" , fällt Richter Andreas Hautz zur Situation im OLG ein. "Es gibt um 60 Prozent mehr Akten" , rechnet wiederum Forsthuber vor, zeigt immer wieder auf Listen und Tabellen, um seine Worte zu untermauern. "Das ist das, was uns in dieser Ausformung das Genick bricht" , ergänzt Senatspräsident Leo Levnaic-Iwanski. Er hat zwei Änderungswünsche: "Mehr Personal. Sonst kann man nur hoffen, dass sich das Gesetz ändert. Zerkratzte Gartenhütte, Zehn-Euro-Diebstahl - Wir sind auch für kleine Fälle zuständig." Und Levnaic-Iwanski warnt: "Die Frustration steigt enorm. Die Gefahr von Burnout ist groß. Und einige sind auf dem besten Weg dorthin."
Eines ist hier allen gemein: Von der Politik erwarten sie nicht mehr viel. Jilkes Fazit: "Die Gerichtsbarkeit ist den Politikern wurscht."

Dass die Standesvertreter laut über Protestmaßnahmen nachdenken, findet sogar beim Vizepräsidenten des OLG Verständnis: "Ich sehe überhaupt kein Einsparungspotenzial" , sagt Wolfgang Pöschl, "im Bereich Strafsachen sind wir in die Enge getrieben worden. So einen Zustand wie jetzt habe ich noch nie erlebt." (Peter Mayr, Michael Möseneder, Günther Oswald/DER STANDARD Printausgabe, 7./8. März 2009)