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Von den kommunistischen Abgeordneten zum Präsidenten gewählt: Václav Havel bei der Vereidigung am 29. Dezember 1989. 

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Zehn Monate später war Havel tschechoslowakischer Staatspräsident.

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Es gab Zeiten, als auch in unserem Land das Wort Sozialismus einen sehr konkreten und suggestiven Inhalt hatte: Es war das Synonym für eine sozial gerechte Welt, also ein Ideal, für das zu kämpfen es sich lohnte. Es war keineswegs ein nebuloses Ideal: Das Verführerische an ihm entsprang seiner stolz betonten Wissenschaftlichkeit; diese Idee schien auf der Erkenntnis der fundamentalen historischen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut zu sein und sah wie das einzig logische Happy End der Weltgeschichte aus.

Fauler Trick

Seither hat sich vieles geändert. Und es geschah etwas Merkwürdiges: Die sehr lange und ungewöhnlich komplizierte Entwicklung mündete schließlich in eine Situation, wo dieses Wort, das einst Massen zu begeistern imstande war, zu nichts mehr als einer durch und durch verlogenen Worthülse geworden ist. Der bürokratische Apparat der kommunistischen Partei, der das Machtmonopol usurpierte und das gesamte Leben der Gesellschaft zentral leitet und manipuliert, wendet nämlich schon seit Jahrzehnten einen faulen Trick an: Er bezeichnet sich selbst als Sozialismus. Er gibt sich für seine einzige Garantie aus und bezeichnet jedermann, der ihm nicht passt, sofort als antisozialistische Kraft.

Die souveräne Macht dieses Apparates zu bedrohen bedeutet also, den Sozialismus selbst zu bedrohen. Dieser Trick hat seine Logik und Wirksamkeit: Die langjährige Propaganda, verbunden mit der Erinnerung an alte Zeiten, als das Wort Sozialismus noch seinen anziehenden Inhalt hatte, erzeugte in der Gesellschaft das Gefühl, Sozialismus sei der Inbegriff des Guten. Mithin umgibt ein Anflug des Bösen alles, von dem man sagt, dass es den Sozialismus bedroht. Kann man sich ein besseres Mäntelchen vorstellen, in das sich der Machtapparat hüllen kann? Schließlich entsteht dank dieses Mäntelchens der Eindruck, dass jeder, der mit diesem Apparat in Konflikt gerät, böse ist und gegen das Gute kämpft.

Schwerlich könnte man wahrscheinlich Verfechter der Menschenrechte, Demokraten, Reformisten oder nichtkonforme Menschen überhaupt dafür verurteilen, dass sie das Machtmonopol der gegenwärtigen Parteiführung kritisieren oder bedrohen; das würde nicht einer gewissen Komik entbehren. Sie jedoch dafür zu verurteilen, dass sie gegen den Sozialismus und ergo gegen das Gute schlechthin sind, das ist schon weniger komisch und deshalb auch wirksam. Nicht jeder wird nämlich das Risiko auf sich nehmen, auf diese Art verurteilt zu werden.
Diese oder jene Kuh zu kritisieren ist nicht schwierig, eine Kuh jedoch zu kritisieren, die sich selbst seit Jahrzehnten für heilig erklärt, ist schwieriger: Dem Menschen wird das Gefühl eingegeben, nicht nur die Kuh zu kritisieren, sondern das göttliche Prinzip selbst, das sie geweiht hat.
Man kann oft beobachten, wie ehrliche Menschen, die etwas zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen wollen, auf diesen Trick hereinfallen. Sie behaupten dann, selbstverständlich für den Sozialismus (sie sind ja für das Gute!) zu sein und nur dies und jenes ein wenig verändern zu wollen. Sobald jemand aber auf diesen Trick einmal hereingefallen ist, besiegelt er damit sein Schicksal: Indem er „den Sozialismus" als das historisch Gute anerkennt, erkennt er die Legitimität des Mäntelchens, respektive das Mäntelchen als Wirklichkeit an - und für jenen, der sein Mäntelchen so lange für seine ureigene Identität ausgegeben hat, ist es dann kein Problem zu erklären, der Betreffende verstehe den Sozialismus falsch und schade ihm de facto. Denn darüber, was im Interesse des Sozialismus liegt und was ihm schadet, kann kompetent nur jener entscheiden, der sozusagen der Sozialismus selbst ist.

Maus und Elefant

Der sozialistische Kritiker der Macht gerät in die komische Position der Maus, die an den Elefanten appelliert, dass er doch Elefant sein sollte. Aber wie man am besten Elefant sein soll, weiß doch der Elefant selber am besten!
Ich schlage deshalb vor, das Wort „Sozialismus" künftig zu meiden. Man möge konkret reden: darüber, wer die unternehmerischen Entscheidungen treffen soll, wem die Betriebe gehören sollen, wieweit das Machtzentrum über verschiedene Angelegenheiten entscheiden soll oder nicht, ob dieses oder jenes Machtzentrum überhaupt entstehen soll, usw. usw.
„Sozialismus" sollte man am besten - zumindest für einige Zeit - da nicht hineinziehen. Und falls schon jemand über ihn spricht, sollte er zuerst ganz unzweideutig sagen, was er mit diesem Wort meint und welches konkrete wirtschaftliche und politische System er mit diesem Begriff verbindet.
(Václav Havel, DER STANDARD, Printausgabe, 23.2.2009)