Foto: Franz Pfluegl

Fink: "Österreich hat einen großen Aufholbedarf bezüglich lebenslangem Lernen und aktiver Arbeitsmarktpolitik. Nordische Länder geben dafür pro Arbeitslosem etwa doppelt so viel Geld aus wie wir".

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"Es gibt ja immer die Beteuerungen aus der Politik, dass wir das beste Sozialsystem der Welt haben. Das würde ich so nicht unterschreiben". Politologe Marcel Fink sieht im Gespräch mit derStandard.at im österreichischen Sozialstaat viele "Punkte, wo man nachjustieren muss". Die Fragen stellte Anita Zielina.

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derStandard.at: Herr Fink, wie steht es um den Sozialstaat Österreich?

Fink: Es gibt ja immer die Beteuerungen aus der Politik, dass wir das beste Sozialsystem der Welt haben. Das würde ich so nicht unterschreiben. Es gibt eine ganze Reihe von Herausforderungen. Wir haben im internationalen Vergleich ein relativ stark beitragsfinanziertes System. Vor dem Hintergrund einer fallenden Lohnquote brauchen wir diesbezüglich mittelfristig eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis. Auf der Leistungsseite ist evident, dass wir für eine Reihe von neuen, sogenannten postindustriellen Risken, relativ schlecht aufgestellt sind.

derStandard.at: Welche Risken sind das?

Fink: Das wäre erstens der laufende Druck zur Requalifizierung angesichts sich rasch verändernder Märkte. Österreich hat einen großen Aufholbedarf bezüglich lebenslangem Lernen und aktiver Arbeitsmarktpolitik. Nordische Länder geben dafür pro Arbeitslosem etwa doppelt so viel Geld aus wie wir. Zweitens haben wir im Bereich soziale Dienstleistungen Probleme, etwa mit dem Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch im Pflegebereich hat man keine nachhaltige Sicherung, auch wenn das Modell der 24-Stunden-Pflege eine Verbesserung gebracht hat. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass 80 Prozent der Pflege in Österreich nach wie vor privat abgewickelt wird und eine sehr hohe Belastung für die Betroffenen darstellt.

Drittens gibt es im Gesundheitssystem diverse Probleme. Neben anderem gibt es da eklatanten Nachholbedarf betreffend präventiver Instrumente und Maßnahmen. Und viertens haben wir bei monetären Sozialleistungen eine weitgehend lineare Berechnung. Das bedeutet, dass Personen mit nicht-durchgängigen Erwerbsbiographien oder Personen mit ehemals niedrigen Erwerbseinkommen stark benachteiligt sind und Sozialleistungen dann zum Teil unter dem Niveau der Armutgefährdungsgrenze zu liegen kommen. Das sind Punkte, wo man nachjustieren muss. Das würde auch bedeuten, dass man Geld im System neu verteilt. Man müsste gar nicht unbedingt mehr Geld in die Hand nehmen.

derStandard.at: Und woher soll dieses Geld umverteilt werden?

Fink: Man muss schon sagen: Wir haben im EU-Vergleich zusammen mit Italien das mit Abstand teuerste Alterssicherungssystem. Die Dänen geben zwei Prozentpunkte vom BIP weniger dafür aus und haben trotzdem keine höhere Armutsgefährdung im Alter.

derStandard.at: Zum Thema Armutsgefährdung – hat das österreichische soziale Netz Löcher? Gibt es (zu) viele, die durchfallen?

Fink: Wir haben eine Armutsgefährdungsquote von 13 Prozent in Österreich. Bestimmte Gruppen sind überproportional häufig betroffen, etwa Langzeitarbeitslose, MigrantInnen und AlleinerzieherInnen, Frauen in der Regel mehr als Männer. Erschreckend ist, dass von den Armutsgefährdeten im erwerbsfähigen Alter etwa 50 Prozent erwerbstätig sind, und dass von denen zwei Drittel Vollzeit beschäftigt ist. Wir haben also eine ganz große Population sogenannter "working poor". Da ist auch die Lohnpolitik gefordert.

derStandard.at: Kann man dieser Armutsfalle mit einer Grundsicherung entgegenwirken?

Fink: Natürlich kann das eine gute Sache sein, aber es kommt dann sehr darauf an, wie eine solche Mindestsicherung im Einzelnen ausgestaltet ist. Wir haben in Österreich mit der Debatte über Grundsicherung auch zugedeckt, was wir für einen Adaptionsbedarf bei den anderen bereits etablierten Systemen haben. Ich habe das Gefühl, dass man sozusagen als Allheilmittel sagt: So, jetzt machen wir die Grundsicherung und lassen sonst alles so wie es ist.

Es geht aber um eine breitere Strategie, zum Beispiel auch um die Verbesserung der Durchlässigkeit des Bildungssystems und die vorher angesprochenen Adaptionen in anderen Bereichen.

derStandard.at: Thema Arbeitsmarktpolitik – was halten Sie von der Idee des VP-Mannes Kopf, dass Erwerbslose verpflichtend Sozialdienst leisten sollen?

Fink: Diese Idee kommt ja immer wieder und beruht auf der Unterstellung, dass ein Erwerbsloser lieber die Freizeit genießt als zu arbeiten, dass er sich das sozusagen freiwillig aussucht. Eine Strategie im Sinne von „make leisure pay less“ soll dann die Anreizbedingungen für Erwerbslose verändern. Solche Überlegungen sind ja erstens schon mal grundsätzlich fragwürdig. Zweitens: Ganz abgesehen davon bedeutet flächendeckende gemeinnützige Arbeit für Arbeitslose extrem hohe Administrationskosten. Drittens hat man das Problem, dass Leute, die in so einer Maßnahme drinnen sind, ein zeitliches Problem mit der Arbeitssuche haben.

Vierter Punkt: Die Qualifizierungsaspekte solcher Maßnahmen sind äußerst zweifelhaft. Fünftens entsteht dann eine Verzerrung in den Märkten für zum Beispiel soziale Dienstleistungen, die Arbeit dort wird quasi entwertet. Sechstens: Wie schafft man Qualitätssicherung in sensiblen Bereichen mit eigentlich nicht dafür qualifizierten Leuten? Und zuletzt: Solch gesellschaftlich wünschenswerte, sozial wichtige Arbeit soll eigentlich gut bezahlt werden, das ist ja ein förderwürdiges Gut.

Da gibt es eine breite wissenschaftliche Diskussion zu solchen Fragen, in die sollte sich der Herr Kopf mal vertiefen.

derStandard.at: In Deutschland gibt es eine starke Protestbewegung der "Modernisierungsverlierer", wenn man das so nennen will. Wieso ist sowas in Österreich kein Thema?

Fink: „Die Linke“ in Deutschland, die ja im Sinne der Parteipolitik wesentlicher Träger dieser Bewegung ist, hatte einen großen strukturellen Startvorteil, da sie aus verschiedenen bestehenden Parteien entstanden ist, die schon eine starke, auch mediale, Öffentlichkeit hatten. In Österreich haben die Linksprojekte weder diese Öffentlichkeit noch Personen an der Spitze, die diese Öffentlichkeit haben. In der SPÖ gibt es außerdem diese linken Abspaltungstendenzen bisher nicht.

Aus diesen Gründen sieht es eher so aus, dass Protest gegen das System bei uns aktuell eher den Rechtsparteien zu Gute kommt.

derStandard.at: Kommt auf uns noch mehr Protest zu?

Fink: Da müsste es einen Katalysator im Zentrum des politischen Systems geben, damit diese Diskussion – abseits der oberflächlichen Kanalisierung im Rahmen der Rechtsparteien ‑ losgeht. Tatsächlich haben diese Unterprivilegierten der Gesellschaft wenig Möglichkeiten, sich zu organisieren und in Österreich, außer der Armutskonferenz und deren Umfeld, keine echte Lobby.

Von der etablierten Parteipolitik kommt da fast nichts. Die Grünen hätten in diese Kerbe schlagen können, sie hätten diesen Katalysator darstellen können, haben das aber mit ihrer relativ stark mitte-orientierten Politik der vergangenen Jahre versäumt. (Anita Zielina, derStandard.at, 29.10.2008)