Äußerlich der typische Angestellte ist Vincent in Wahrheit ohne Job: Aurélien Recoing in Laurent Cantets "L'emploi du temps".

Foto: Viennale 2001

Das französische Filmdrama "Auszeit" erzählt von einem entlassenen Manager, der Beschäftigung vortäuscht. Regisseur Laurent Cantet erläutert im Gespräch mit Isabella Reicher den Zusammenhang von Arbeit und Identität.

Wien – Vincent (Aurélien Recoing), leitender Angestellter, verheiratet, drei Kinder, Besitzer eines hübschen Eigenheims, führt ein Doppelleben: Morgens bricht er zur Arbeit auf, abends kehrt er für gewöhnlich zurück.

Dazwischen liegt ein Tag, der nicht mit Arbeit im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr mit der Simulation eines Arbeitsverhältnisses ausgefüllt ist. Stunden, die Vincent in Raststätten, Hotellobbies oder den halb öffentlichen Zonen anonymer Firmengebäude zubringt. Seine Entlassung hat ihm eine Auszeit - so der deutsche Titel von Laurent Cantets preisgekröntem Drama L'emploi du temps – beschert. Ein Umstand, den er vor seiner Familie verheimlicht und den er gleichermaßen als befreiend wie belastend empfindet.

STANDARD: Auszeit ist Ihr zweiter Film, der Arbeit thematisiert – war das bereits mit dem ersten, Ressources humaines, als Projekt angelegt?

Laurent Cantet: Nein, aber ich hatte Lust, an diesem Sujet dranzubleiben. Und ich wollte auf das Etikett eines "Regisseurs des Sozialen" reagieren, das mir die Öffentlichkeit nach dem Film Ressources humaines, der sich um die komplexen Auswirkungen von Rationalisierungen in einer Fabrik drehte, zugedacht hatte. Ich habe der Arbeit gegenüber eine ambivalentere Position, als man zunächst wahrzunehmen glaubte.

Auszeit beschreibt jemanden, der das Recht fordert, sich anders als über seine Arbeit zu definieren. In Ressources humaines hätte das niemand so klar formulieren können. Auszeit ist schwieriger zu fassen, und ich nehme auch eine gewisse Ablehnung gegenüber der Idee wahr, dass Arbeit nicht notwendigerweise eine Erfüllung ist.

STANDARD: Außerdem stellen Sie einen ehemaligen leitenden Angestellten in den Mittelpunkt des Films, geben dem Thema Arbeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit auch dadurch eine andere Wendung.

Cantet: Einen Arbeitslosen zu zeigen, der unter seiner Situation leidet, würde ganz selbstverständlich akzeptiert werden, weil es ja auch einer Realität entspricht. Einen Arbeitslosen zu zeigen, der eigentlich ganz zufrieden ist, ist dagegen ein Schock. Schon während ich das Drehbuch schrieb, gab es darüber heftige Debatten. Etliche Leute sagten mir auch, dass sie dieses Happyend nicht verstünden. Dabei ist es für mich kein Happyend, nur weil jemand, der wieder Arbeit findet, automatisch als Gewinner gilt – das wollen viele nur nicht hören.

STANDARD: Umgekehrt könnte man die Hauptfigur genauso gut als Erfolgsmenschen charakterisieren, dessen Doppelleben sich der perfekten Anwendung jener Fertigkeiten verdankt, die er im Beruf erworben hat.

Cantet: Es wäre ein Erfolg, wenn er sich damit abfinden könnte, so zu leben wie sein kurzzeitiger Verbündeter Jean-Michel, der völlig alleine ist. Dieses Doppelleben ist nur möglich ohne starke Bindungen. Vincent liebt seine Frau und seine Kinder sehr, und er braucht sie. Am Ende erkennt er schmerzlich, dass seine Freiheit diese Bindungen ausschließt, er sich entscheiden muss. Die Entscheidung, die er trifft, diese Rückkehr zur Normalität, kommt für mich aber gewissermaßen auch einem Selbstmord gleich.

Obwohl die Lügen vorher schwer aufrechtzuerhalten waren, hatte er doch auch ein intellektuelles Vergnügen am Erfinden von Geschichten, an der laufenden Konstruktion seines Parallellebens. Da gibt es auch Überschneidungen mit dem, was er beruflich getan hat. Mit dem Schluss ging es mir unter anderem darum, Vincent ein letztes Mal lügen zu sehen – aber unter anderen Voraussetzungen.

STANDARD: Haben Sie für den Film gezielt recherchiert?

Cantet: Nein, wenn man mit dem Schreiben beginnt, entwickelt sich ohnehin eine Art innere Logik des Szenarios. Außerdem sind viele der Mitwirkenden keine professionellen Darsteller, sondern selbst etwa als leitende Angestellte tätig, sind also sehr in dieses Milieu eingebunden. Das hat mir quasi erlaubt, meine auf dem Papier getroffenen Hypothesen zu verifizieren. Die Erzählung entwickelte sich also auch noch während des Drehens und vielleicht hängt der realistische Eindruck, den der Film erzeugt, auch damit zusammen, dass sich die Realität so fortwährend in den Entstehungsprozess integrierte.

STANDARD: Die Arbeit mit Laien spielt im Autorenkino momentan eine wichtige Rolle.

Cantet: Mir macht das zunächst einfach Spaß. Ich begegne auf diesem Weg Menschen, von denen ich sehr viel lerne. Je klarer die Figuren für mich charakterisiert sind, desto mehr interessiert es mich, an Leute heranzutreten, die mit solchen Typen zu tun haben. Schon bei Ressources humaines war es mir sehr wichtig, tatsächlich mit Arbeitern zu drehen. Ihre Sprache etwa ist keine, die ein Drehbuchautor schreiben könnte. Zumindest fühle ich mich dabei immer unwohl.

Dann gibt es noch einen letzten Aspekt, der mich an der Zusammenarbeit mit Laien interessiert: Das ist, Gesichter zu sehen, die man nicht kennt, Stimmen zu hören, die nicht so perfekt, so glatt sind wie Schauspielerstimmen sein können. In Auszeit gibt es zum Beispiel Leute mit kleinen Sprachfehlern, mit eigenwilligem Sprechrhythmus – das sind Sachen, die man im Kino, mit seiner leicht standardisierten Sprechweise, sonst nicht hört. Das trägt sicher mit zu einer Art von Wahrhaftigkeit bei. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.8.2002)