Eine streitlustige Familie in Mauthausen: Gideon, David, Estee und Ronel Fisher (v. li.) bewegen sich in "Six Million and One" auf den Spuren der Vergangenheit.

Foto: Thimfilm

"Six Million And One", vor zwei Wochen beim Crossing-Europe-Festival in Linz uraufgeführt, hat am Dienstagabend beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in München den mit 10.000 Euro dotierten Doku-Filmpreis gewonnen.

Als bester deutschsprachiger Film wurde übrigens Bernhard Sallmanns "Das schlechte Feld", der im Vorjahr bei Crossing Europe Premiere gefeiert hatte, ausgezeichnet (www.dokfest-muenchen.de).

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Wien - Vier Geschwister brechen auf eine Reise nach Österreich auf. Einer von ihnen, David Fisher, ist Dokumentarfilmemacher - er hat den Trip veranlasst, nachdem er nach dem Tod seines Vaters dessen Tagebücher gefunden hat.

Ein schmerzvoller Besuch: Denn Joseph Fisher ist im nationalsozialistischen Österreich durch die Hölle gegangen. In Gusen war er einer der Zwangsarbeiter, die an der Errichtung des unterirdischen Flugzeugwerks beteiligt waren; danach befand er sich unter den wenigen, die das Konzentrationslager von Gunskirchen überlebten.

Seine Kinder, David, Estee, Ronel und Gideon gehen nun noch einmal den Weg des Vaters entlang. Das Resultat ist der außerordentliche Film "Six Million and One" über eine Familie, die sich nicht einfach mit der Geschichte konfrontiert, sondern sie austrägt und verhandelt: mit Mut, Stärke, Streitlust und Humor.

Standard: Marcel Proust hat einmal gesagt, auf einer Reise geht es darum, etwas wahr werden zu lassen. Wie verhält sich dieser Satz zu Ihrer Reise nach Österreich?

David Fisher: Könnten Sie bitte mit einer einfachen Frage beginnen?

Ronel Fisher: Es ist aus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ...

Estee Fisher-Heim: Was meinen Sie mit wahr werden lassen genau?

Standard: Etwas wie: Wenn man in den Süden fährt, will man die Hitze spüren ...

David Fisher: Ich habe meinen Vater, als er noch lebte, nicht genügend geschätzt. Ich dachte, er hätte meinem Leben nichts hinzuzufügen: ein Arbeiter, mit dem ich zu keinem Dialog fand. Als ich seine Aufzeichnungen las, fand ich heraus, dass er ein Intellektueller war. Ich hätte mit ihm sprechen können. Wahrscheinlich wollte ich mit dem Film herausfinden, warum ich so dumm war, dies nicht früher zu erkennen.

Standard: Wie hat sich aus dieser Erkenntnis der Film entwickelt?

David Fisher: Es dauerte acht Jahre, um das Projekt zu starten, ihm zurückzuschreiben - mein Vater schilderte nicht nur Erinnerungen, sondern er schrieb auch darüber, wie schwierig für ihn das Schreiben selbst war. Er hörte immer wieder auf, fing neu an. Er schrieb über zwei Zeiten: die Vergangenheit der Erinnerungen und die Gegenwart der Arbeit daran. Ich wollte den Schlüssel zur inneren Wahrheit meines Verhältnisses zu ihm finden - dies hat die Reise motiviert. Ich musste mit so vielen Widersprüchen zurechtkommen. Deswegen war es so wichtig für mich, dass mich meine Geschwister dabei begleiteten.

Standard: Wie haben Sie auf das Anliegen Ihres Bruders reagiert?

Ronel Fisher: Gute Reisen sind solche, in denen man Fragen stellen kann. Ich suche keine Antworten. Leute, die sagen, sie hätten Antworten, mag ich nicht. Aber die richtigen Fragen zu stellen, das ist etwas sehr, sehr Schwieriges. Was David getan hat, ist, mich an einen Ort zu bringen, an dem man mit vielen Oxymora lebt - mit Dingen, mit denen man nicht umgehen kann. Wir sitzen hier in einem schattigen Garten in einem sehr schönen Land, aber 20 Minuten von hier befand sich die Hölle. Wie kann das sein? Es gibt Fragen, die zu groß sind, um darauf Antworten zu geben.

Standard: Eine Antwort des Films könnte sein: Er ermöglicht eine Erfahrung. Ich beziehe mich auf eine zentrale Szene des Films, in der Sie den Tunnel von Gusen betreten und dort ein unglaubliches Gespräch führen. Wie entstand das?

Estee Fisher-Heim: Das ist ein Teil von Davids Tricks. Er hat uns nichts gesagt.

Ronel Fisher: Estee brüllt David im Film ja an: "Wie konntest du uns an einen solchen Ort bringen?"

David Fisher: Ich habe nichts gesagt, und die beiden wollten es nicht wissen. Das war reziprok. Es gab keine Fragen, die ich nicht beantwortet hätte. Niemand sagte: "Sag mir, wohin es gehen soll!"

Estee Fisher: Ich habe gefragt, du hast gesagt: "Du wirst schon sehen."

David Fisher: Ich muss zugeben, ich hatte ein klein wenig sadistische Lust, sie an dieselben Orte zu bringen, an denen ich davor war, um zu sehen, wie sie darauf reagieren würden. Natürlich brauchte ich Unterstützung. Als mir die Österreicher sagten, dass sie den Tunnel für einen Tag öffnen würden, erschien es mir unmöglich, allein dorthin zu gehen.

Estee Fisher-Heim: Es ist unerträglich, an diesen Ort alleine zu gehen. Gusen kann man niemandem erklären: Wenn ich erzählen würde, ich wäre in einem sieben Kilometer langen Tunnel gewesen, in dem während des Nazi-Regimes 1.000 Flugzeuge von Zwangsarbeitern gebaut worden waren, und mein Vater war einer von ihnen - das ist eine dieser Geschichten, die wir als Kinder nicht hören wollten.

Ronel Fisher: Wir vier haben wenig gemeinsam. Wenn das mein Film wäre, hätte ich nicht auf die Österreicher gewartet, den Tunnel zu öffnen. Ich hätte den Ort in die Luft gejagt. Das ist die Wahrheit! Aber der Film ist von David, und wir sind ihm gefolgt; er hat uns allen Platz gegeben. (Zu David:) Ich kann immer noch nicht fassen, dass du dorthin gegangen bist.

Standard: Warum wollten Sie denn unbedingt in den Tunnel gehen?

David Fisher: Ronel war investigativer Journalist. Für ihn gibt es ein Ziel, für mich sind menschliche Beziehungen wichtiger, der Schmerz und der Humor, den man teilen kann. Das ist das Geheimnis dieser Reise. Irgendwo tief im Inneren wusste ich, dass ich den tiefsten Teil dieses Tunnels gehen muss, auf die dunkle Seite des Lebens, wo wir keine Indifferenz mehr empfinden würden, weil wir offen sind und keine Geheimnisse haben. An diesem Ort würde alles zum Vorschein kommen. Wegen der Dunkelheit, wegen der Erinnerungen meines Vaters, weil wir sind, wer wir sind.

Standard: Sie machen die Reise im Film zweimal: erst allein, dann gemeinsam. Warum diese Struktur?

David Fisher: Ich hätte die Audio-Guide-Tour durch Gusen beim zweiten Mal auslassen können. Aber beim ersten Mal kann das Publikum mit mir die Fakten erfahren, beim zweiten Mal kann es den Gesichtern folgen. Es hört nicht mehr, sondern sieht zu und hat das Gesagte bereits im Kopf.

Standard: Ging es auch darum, einer bestimmten Darstellung des Holocaust-Themas auszuweichen?

David Fisher: Ja, ich hatte das Dilemma, nicht noch einen Film über den Holocaust drehen zu wollen. Ich wollte meinen eigenen Film machen, deshalb ist es für mich zuallererst ein Film über Familienangelegenheiten, erst in zweiter Hinsicht einer über die Shoah.

Standard: In dem Wald, wo sich das Lager von Gunskirchen befand, sprechen Sie alle über das Überleben und die Bürde, die es mit sich bringt. War das ein Thema, dem sich die Familie gestellt hat?

Ronel Fisher: Mein Vater hat nie als schuldige Person gesprochen. Er hatte keinen Sinn für Philosophie. Er war ein Mensch der physischen Tatsachen: Man muss arbeiten, essen, sterben ... Schuld? Vielleicht dachte er darüber zwei Sekunden nach. Das war Teil seiner Stärke: Die großen Fragen bringen einen um. Deswegen sprach er auch ohne Hass über Deutschland. Wir brauchen Menschen wie meinen Vater, nicht zu viele, aber einige - dann weiß man, dass die Menschheit überleben wird. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 10.5.2012)