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Eines der kollateralen Verbrechen der Nazis, und nicht das geringste, ist das Schuldgefühl gegenüber ihren ermordeten, verhungerten, von Seuchen dahingerafften Opfern, das sie den Überlebenden aufgezwungen haben. Es verdrängt oder kontaminiert alle anderen Empfindungen, es belastet das Verhältnis zur Familie, den Kindern, dem sozialen Umfeld. Seine individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen sind im israelischen Kunstschaffen immer wieder dargestellt worden, besonders eindrucksvoll von Eli Cohen in den nach Gila Almagors Autobiografie entstandenen Filmen Aviyas Sommer und Unter dem Maulbeerbaum.

Auch David Fisher greift in seinem Dokumentarfilm Six Million and One dieses große schwierige Thema auf. Der eine, das ist sein Vater Josef Fischer, der den Holocaust überlebte und ihm doch nicht entrinnen konnte, weil ihn die Erinnerung daran bis an sein Lebensende verfolgt hat und er sich oft, ständig eigentlich, gewünscht hat, im Konzentrationslager umgekommen zu sein wie seine Leidensgefährten. Fischer war im Mai 1944, mit sechzehn Jahren, nach Auschwitz deportiert worden. Noch im selben Monat wurde er nach Mauthausen überstellt. Im Außenlager Gusen war er gezwungen, Stollen zu graben, für ein unterirdisches Flugzeugwerk mit der Tarnbezeichnung "Bergkristall". Seine Befreiung erlebte er in Gunskirchen bei Wels, am Ende eines schrecklichen Todesmarsches, das erst den Anfang seiner Seelenqualen bedeutete.

Vor zwölf Jahren ist Josef Fischer in Israel gestorben. Er hinterließ einen Notizblock, auf dem er versucht hatte, dieses eine Jahr Lagerhaft festzuhalten, in der verzweifelten Hoffnung, sich damit vom Schuldgefühl zu befreien, "in dem ich seit der Befreiung aus dem Lager gefangen bin". Den Aufzeichnungen stehen zwei Sätze voran, die für seine Kinder bestimmt waren: "Ich habe es nicht geschafft, ein Vermögen zusammenzubringen. Ihr seid das Vermögen."

Mehr noch als von ihm handelt der Film von diesem Vermögen, seiner Tochter, vier Söhnen, und wie sie mit dem Vermächtnis des Vaters, mit sich selbst und miteinander umgehen. Für David, den Regisseur, stellt sich die Sache vergleichsweise einfach dar: "Ich begann den Spuren meines Vaters zu folgen, als ich begriff, wie sehr er mir fehlte."

Er ist auch als Einziger willens gewesen, dessen Aufzeichnungen zu lesen. Er führt sie mit sich, als er sich ins winterliche Österreich aufmacht, auf der Suche nach den Bildern, die zu den Sätzen des Vaters gehören. Er hat sie bei sich, als er in die USA reist, zu einem Treffen mit Veteranen der 71. Infanteriedivision, die völlig unvorbereitet, aus reinem Zufall, auf die lebenden und sterbenden Häftlinge von Gunskirchen gestoßen waren, und er trägt sie auch bei sich, als er im Jahr darauf drei seiner Geschwister überreden kann, ihn an die Leidensstätten des Vaters zu begleiten. Sie sträuben sich noch während der Fahrt durch die herb-anmutige Landschaft Oberösterreichs, sie opponieren gegen sein Vorhaben, sie machen sich über ihn und über sich selbst lustig, sie schimpfen, streiten, versöhnen sich, und sie werden sich zu guter Letzt auch mit dem toten Vater aussöhnen.

Zwischen Erleben und Erfahren

Eine Reise als Therapie von Holocaustopfern der zweiten Generation, könnte man meinen; aber Fishers Film ist weit mehr als das bebilderte, bewegte Protokoll des Zusammenkommens von Geschwistern, die einander durch die überwältigende Geschichte ihres Vaters entfremdet waren. Ronel, der jüngste, provozierende, seine Verletzlichkeit effektvoll kaschierende Sohn, weist einmal auf den Abgrund zwischen den grauenvollen Erlebnissen des Vaters und dessen unzulänglichen Versuchen hin, ihnen schreibend gerecht zu werden, in kläglich simplen Aussagesätzen: "Dann bin ich gegangen, dann habe ich Gras gegessen, dann bin ich erschöpft zu Boden gesunken ..."

Die Fallhöhe zwischen Erleben und Erfahren lässt an Walter Benjamins Behauptung denken, dass die Menschen nicht reicher, sondern ärmer an Erfahrung von den Schützengräben und Schlachtfeldern zurückgekommen seien. Er hatte dies Anfang der 30er-Jahre festgestellt und dabei den Ersten Weltkrieg gemeint. Aber dieser Erfahrungsnotstand war ja noch harmlos, verglichen mit dem Mangel an mitteilbarer Erfahrung eines jüdischen KZ-Häftlings! "Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden", schrieb Benjamin, und man müsste ergänzen: als die strategischen durch den Vernichtungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Sklavenarbeit, die körperlichen durch das organisierte Verhungernlassen, die sittlichen durch das perfektionierte Morden.

Trotzdem ist der Film auf Erfahrung aus. Wenn David Fisher, zuerst allein, dann in Begleitung seiner Geschwister durch das heutige Gusen oder St. Georgen geht, hat man unwillkürlich das Gefühl, hier schaut sich der Vater in der ehemaligen Hölle um. Ein wenig befangen, ein wenig neugierig, ein wenig sprachlos über die Normalität des Alltags. Wäscheklammern an einer Leine, ein trauriger Faschingsumzug, närrische Eisstockschützen, eilige Frauen mit Nordic-Walking-Stöcken. Das Gebäude der einstigen Kommandantur von Gusen, das von einer dreiköpfigen Familie bewohnt wird: Mann, Frau, halbwüchsige Tochter, die aus einer Limousine steigen und in der Tür verschwinden. Dicht ans Krematorium gebaut, die Einfamilienhäuser. Im Wald von Gunskirchen ein Chor, der ein Kirchenlied singt: "Meine Seele ist Stille in dir."

"Sieh dir das an. Wie sie leben!", hatte Fishers Schwester Esti in Gusen ausgerufen, mehr verwundert als empört. Aber dieses Leben, das macht der Film kenntlich, ist ein Surrogat. Beseelt wirken dagegen die Frauen und Männer vom Gedenkkomitee Gusen, die sich gegen die Entsorgung der Geschichte wehren. Als Fisher eine von ihnen fragt, warum sie das geplante Zuschütten des Steinbruchs nicht dulden wollen, findet die Frau keine Worte. Man sieht, wie es in ihr arbeitet. Der Begründung, die sie nach einigen Sekunden der Besinnung gibt, hätte es nicht bedurft.

Berührend und bestürzend

Auch das ist einer der Vorzüge dieses Films: dass er geduldig mit den Menschen umgeht, dass er sie ausreden lässt, dass er sie im Zwist, in der Trauer, im Übermut begleitet, dass er die Ursache mancher Konflikte, wie den zwischen seinen Brüdern Gideon und Ronel, nicht erklärt. Berührend und bestürzend die Begegnung mit den ehemaligen Soldaten der amerikanischen Armee, alten Männern, die immer noch an den Folgen dessen leiden, was sie in Gunskirchen gesehen haben. An ihrem Entsetzen, ihrer Hilflosigkeit, ihrem Unvermögen damals, die Sterbenden vor dem Sterben zu bewahren.

David Fisher ist fast immer im Bild, aber er stellt sich nie in den Mittelpunkt. Er präsentiert sich auch nicht als unbeteiligter Beobachter. Nie erliegt er der Versuchung, die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen von Wirklichkeit zu inszenieren. Der Rhythmus des Films ist seiner Emotion gewachsen.

Erstaunlich, wie wenig man über das Vorleben des Vaters erfährt, und noch erstaunlicher, dass man trotzdem die Gewissheit bekommt, hinreichend viel über ihn zu wissen. Stammte er aus Polen, aus Ungarn, aus der Slowakei? Bis auf eine Schwester sind alle Angehörigen dem Naziterror erlegen. In seinen Aufzeichnungen erinnert er sich, in der Begegnung mit ihr, in der wiedergewonnenen Freiheit, kein Wort über den geliebten jüngsten Bruder verloren zu haben.

Der Film macht sich das Schweigen des Vaters achtungsvoll zu eigen. Aber er hinterlässt keine anderen Lücken als die dem Unsagbaren geschuldeten: 61 Todesarten von KZ-Häftlingen, im Bürokratenduktus der Mörder gelesen von einer jungen Frau. So geht Six Million and One dem Ende zu: mit einem Picknick der Geschwister auf einer Wiese neben einem Gehöft. "Wozu das Picknick?", fragt Ronel. "Wegen des Lebens", antwortet David. "Was meinst du damit?" "An diesem Haus machte Vater halt, als er aus dem Lager kam. Da war eine Frau. Die Besitzerin. Sie deckte den Tisch, brachte einen großen Topf Suppe und verteilte sie an die Häftlinge. Hier bekamen sie ihr Leben zurück. Ich wollte, dass wir daran anknüpfen. Das ist die ganze Geschichte."

Nun entfernt sich die Kamera von Fischers Vermögen, seinen Kindern, schweift über die Bäume, das Feld, die Häuser. Aber das letzte Wort im Film gebührt dem Vater.  (Erich Hackl , Album, DER STANDARD, 21./22.4.2012)