Der große WSD inmitten loser Blätter. 65 Pappschachteln umfasste die Erstaufnahme des Bestands.

Foto: Corn

Helmut Neundlinger, geb. 1973, arbeitete 2010 bis Jänner 2012 den Nachlass Wendelin Schmidt-Denglers am Österreichischen Literaturarchiv auf. Im März 2012 gab er Schmidt-Denglers gesammelte Texte zum Fußball unter dem Titel "Hamlet oder Happel. Eine Passion" im Klever-Verlag heraus. Der Bericht über den Nachlass wird in einem von Daniela Strigl und Michael Rohrwasser heraus gegebenen Band mit dem Titel "Der Dichter und sein Germanist" in Kürze im Verlag Braumüller erscheinen.

Foto:

Ein karierter Block aus den 1980er-Jahren. Die ersten Seiten voll mit hieroglyphischem Gekrakel. Kleinere verstreute Zettel mit ebenso kaum leserlichen Notizen. Schreibhefte und anderes, dazwischen ein Medikamentenbeipackzettel, leicht mit blutähnlicher Farbe beschmiert. Inmitten des Konvoluts ein kleinformatiges Buch: Bernt Burchhardt, Orte des Absterbens - Lose Blätter, erschienen 1987 im Wiener Löcker-Verlag. Fundort: der Nachlass des im September 2008 verstorbenen Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler. Zunächst kein weiterer Hinweis darauf, wie Schmidt-Dengler in den Besitz dieses Konvoluts kam und warum er es unter seinen zahlreichen Materialien verwahrte. Ein kleines Rätsel, wie so manches an diesem Nachlass, der an Umfang und Vielschichtigkeit ohnedies nicht wenig zu bieten hat, was sich auf den zweiten Blick wohl leichter erklären lässt als die Provenienz des Konvoluts "Burchhardt".

Wendelin Schmidt-Denglers Nachlass war dem Literaturarchiv an der Österreichischen Nationalbibliothek im Jahr 2009 von seiner Witwe Maria in Form einer Schenkung überlassen worden - verbunden mit der Auflage eines eigenständigen Projekts zur systema tischen Aufarbeitung. 65 Pappschachteln mit jeweils mehreren tausend Blatt Papier umfasste die Erstaufnahme des Bestands. Sämtliche Vorlesungsmanuskripte von 1974 bis 2008 sowie alle Aufsätze und Rezensionen, die Wendelin Schmidt-Dengler für Tagungen, Sammelbände, Print- und Hörfunkmedien verfasste, bilden den inhaltlichen Kern des Nachlasses. Kaum weniger bedeutend und umfangreich nehmen sich das Material zur universitären Tätigkeit (Lehre, Verwaltung), die Unterlagen zu seinen Forschungsprojekten und die Sammlungen zu jenen Vereinen und Gesellschaften aus, in denen Schmidt-Dengler als Mitglied aktiv partizipierte. Nicht zu schweigen von der schier uferlosen Korrespondenz, die weit mehr als 10.000 Briefe umfasst. Darunter findet sich gewiss viel "daily business": routinierte Kommunikationen eines vielseitig Organisierten - dennoch kaum zu vernachlässigen im Hinblick auf eine umfassende Einschätzung der konkreten Tätigkeitsfelder des Wendelin Schmidt-Dengler.

Ordnung und Chaos

Was die Aufgabe der Systematisierung betraf, war ich von Anfang des Projekts im Februar 2010 an mit einer komplexen Mischung aus Ordnung und Chaos konfrontiert, die eine endgültige Ablage gleichzeitig erleichterte und erschwerte. Die Schriften und die Korrespondenz waren durchzogen von annualen, alphabetischen und inhaltlichen Systematiken, die wiederum interne Skalengrade von "definitiv" bis "provisorisch" ausbildeten. Nicht bloß einmal musste ich deshalb in der Folge die Leiter umstoßen, die ich gerade eben erklommen hatte.

Wendelin Schmidt-Denglers Nachlass ist der erste große Gelehrtennachlass, den das von ihm selbst mitbegründete und seit 1996 geleitete Literaturarchiv erworben hat. Für die systematische Ablage existieren festgelegte Regeln der Nachlassarchivierung, die von den deutschsprachigen Literaturarchiven in einem Prozess gemeinsamer Reflexion entwickelt wurden. Die daraus hervorgegangene Unterteilung in vier Bereiche (Werke, Korrespondenz, Lebensdokumente, Sammlungen) liegt jedoch teilweise im Widerstreit mit einer Erfahrung, die zum Grundrepertoire der archivarischen Praxis gehört: "Jeder Nachlass ist anders und folgt seiner eigenen Logik", hörte ich gleich zu Beginn aus den Mündern mehrerer Archivmitarbeiter.

Und so besteht der Prozess des Archivierens aus einem fortwährenden Balancieren zwischen Vorgaben und Abweichungen. Am schwierigsten gestaltete sich der Versuch, möglichst eindeutig zwischen den Sphären zu unterscheiden, in denen sich Wendelin Schmidt-Dengler professionell bewegte. Zu seiner akademischen Kernwelt des Wiener Instituts für Germanistik, an dem er seit dem Jahr 1966 (zunächst als Assistent, später als Dozent und schließlich als Professor) tätig war, gesellte sich bald eine Fülle trabantenförmiger Gegen- und Halbwelten, die sich in der einen oder anderen Form mit der Produktion, Präsentation, Aufarbeitung oder Vermittlung literarischer Texte beschäftigten: Vereine und Gesellschaften, die sich um die Erforschung und Herausgabe der Werke einzelner Autoren bemühten (Heimito von Doderer, Thomas Bernhard, Albert Drach); fachspezifische Interessenverbände (Internationale Vereinigung für Germanistik; Österreichische Gesellschaft für Germanistik, Grazer Autoren Autorinnenversammlung); außeruniversitäre Institutionen des literarischen Lebens (Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Literaturarchiv); last, but not least die informelle, zwischen sämtlichen Institutionen ange siedelte Kommunikationsleistung Wendelin Schmidt-Denglers: Wie kaum ein anderer Vertreter seines Fachs pflegte er persönliche Beziehungen zu zeitgenössischen Autorinnen und Autoren und schuf durch seine zahlreichen Vorträge und medialen Auftritte ein Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz von Geisteswissenschaft im Allgemeinen und Literatur im Besonderen.

In all diesen Kontexten war Schmidt-Dengler immer Schmidt-Dengler - welcher institutionellen Rolle aber sollte man die einzelnen Dokumente konkret zurechnen? Oft schienen sich in einem einzigen Brief zwei oder drei verschiedene Sphären miteinander zu verbinden.

Wendelin Schmidt-Denglers Nachlass gleicht ein wenig einem Bild des Malers M. C. Escher. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Ebenen sind so vielschichtig, dass man ein Oben und Unten, Vorn und Hinten oft vergeblich sucht. In gewisser Weise existiert alles zugleich und entgleitet einem dennoch gerade in dem Augenblick, in dem man so etwas wie einen Ariadnefaden in der Hand zu haben glaubt. Und an mehr als einer Stelle war die Verführung zu verweilen denkbar groß, weil sich mit jedem abzulegenden Schriftstück ein neuer Mikrokosmos aufzutun schien. Allein: Dieser Verführung muss der Archivar trotzen, weil er das Labyrinth ja zunächst ordnen, begehbar machen und nicht gleich in sämtliche seiner geheimnisvollen Winkel hinein erkunden soll.

Schmidt-Denglers Multiaktivismus ist legendär bis ins Anekdotische, sein Nachlass der Indizienberg für eine geisteswissenschaftliche Biografie, die man aus naturwissenschaftlicher Perspektive wohl als Emergenzphänomen bezeichnen würde. Seine geistige Tätigkeit hat sich nicht bloß in Vorlesungsskripten, Aufsätzen, Kritiken und Editionen vergegenständlicht, sondern auch in institutionellen Gründungen bzw. Transformationen. Im Nachlass verbirgt sich beispielsweise auch die komplizierte Vorgeschichte der Gründung des Literaturarchivs - und zwar in Form von Protokollen und Korrespondenzen eines österreichweiten Sonderforschungsprojekts zur Sichtung und Aufarbeitung literarischer Nachlässe aus den 1980er-Jahren. Über solche Dokumente ließe sich Schmidt-Denglers Rolle bei der Entwicklung dieser und anderer Institutionen erschließen. Keine dieser Initiativen hätte es ohne ihn gegeben, und dennoch handelt es sich dabei nicht um die Gründungen eines omnipotenten Titanen. Schmidt-Denglers Verdienst war es, im Verbund mit anderen die institutionellen Spielräume systematisch zu erweitern. Zeit seines Berufslebens bewegt er sich - wie es der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour formulieren würde - als Akteur in einem Netzwerk aus Interessen, Einflüssen, Institutionen und anderen Akteuren.

Erschließung des Materials

Insofern ist die nunmehr abgeschlossene systematische Ablage seines Nachlasses nur ein erster Schritt in Richtung einer inhalt lichen Erschließung des Materials, in dem sich das Entstehen und die Veränderungen im literarischen Feld samt seiner formellen und informellen Institutionen der vergangenen 40 Jahre dokumentieren. Und zudem eine Fundgrube für Kuriositäten, in denen Literaturgeschichte sich auf ihre konkreten Momente des Entstehens zurückführen lässt. Unter dem Titel Krimis aus dem Hörsaal etwa findet sich ein Konvolut, das Schmidt-Dengler von seinem Salzburger Fachkollegen Karlheinz Rossbacher1982 zugeschickt wurde. Dieser hatte unter seinen Studierenden einen Kurs in praktischem Schreiben ausgelobt - mit dem Auftrag, kleine Krimierzählungen selbst zu verfassen. Unter den ausgewählten Zusendungen findet sich unter anderem ein 14-seitiges Manuskript mit dem Titel Sieg eines gewissen, damals 22-jährigen Salzburger Studenten namens Wolfgang Haas. Der spätere Erfinder des Detektivs Simon Brenner zeigt sich in diesem Frühwerk noch stark von Thomas Bernhard beeinflusst, entwickelt jedoch in der Hauptszene des Textes, die im Lehener Stadion während eines Meisterschaftsspiels zwischen dem GAK und der altehrwürdigen Austria Salzburg angesiedelt ist, bereits einen Vorgeschmack jenes narrativen Sogs, der für seine Brenner-Krimis so kennzeichnend sein wird.

Mit Akribie sammelte Schmidt-Dengler auch die Druckwerke der organisierten linken Studierendengruppen der 1970er- und 1980er-Jahre - allen voran die von einem gewissen Dr. Franz Schuh herausgegebene Zeitschrift für intellektuelle und emotionale Opposition, in dem sich neben Polemiken gegen die Professorenschaft auch frühe lyrische Versuche des Kommilitonen Robert Menasse finden; Seite an Seite mit Pamphleten des vagabundierenden Dichters Hermann Schürrer oder des radikalen Marxisten Jacques Mayer, mit dem sich Schmidt-Dengler in den 1980ern im Rahmen seiner Vorlesungen im Audi-Max polemische Schlagabtausche lieferte. Erwähnt werden sollen neben den spektakulären Funden auch die stilleren, nicht weniger signifikanten: etwa Schmidt-Denglers Einsatz für Schriftsteller, die nicht unbedingt im Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit standen und stehen. Auskunft darüber gibt nicht zuletzt sein unermüdlicher Briefwechsel mit Autoren wie Reinhold Aumaier oder dem fast vergessenen oberösterreichischen Autor Hermann Obermüller, der 1982 im deutschen Verlag Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Ein verlorener Sohn ein vielversprechendes Debüt geliefert hatte.

Was aber hat es mit dem Konvolut "Burchhardt" auf sich? Der Augustin-Mitbegründer und Journalist Robert Sommer gibt in seinem jüngst erschienenen Buch Wie bleibt der Rand am Rand biografisch Auskunft über den vor wenigen Jahren im Alter von 62 Jahren verstorbenen Schriftsteller: "Bernt Burchhardt wurde Nachrichtensprecher im ORF-Mittagsjournal und wechselte 1971 zur legendären Ö3-Musicbox. 1973 wurde er wegen eines Kommentars über den Konflikt zwischen Bruno Kreisky und Günther Nenning von Alfons Dalma rausgeschmissen, 1975 erhielt er im ORF Hausverbot." Burchhardt gründete in der Folge mit Gerhard Jaschke und Hermann Schürrer die Literaturzeitschrift Freibord. Er schlitterte allmählich in psychotische Zustände und hatte körperlich mit den Folgen seiner Drogensucht zu kämpfen. Ab 1983 lebte er auf der Straße. Im zu Beginn dieses Textes erwähnten Buch Lose Blätter verarbeitete Burchhardt seine Erfahrungen in der Psychiatrie. Kurz nach der Präsentation des Buches ermordete Burchhardt in einem psychotischen Schub den Nachtportier des Klagenfurter Hotels Mondschein.

Vielbestürmter Professor

Wie und warum Wendelin Schmidt-Dengler in den Besitz des Konvoluts mit Burchhardts Texten kam, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Burchhardt selbst bei Schmidt-Dengler, der sich zeitlebens immer wieder auch für marginalisierte Schriftsteller eingesetzt hatte, vorstellig wurde. Möglicherweise erhielt Schmidt-Dengler das Konvolut von Rolf Schwendter, der für die Publikation Lose Blätter ein Nachwort verfasste. Schwendter war zusammen mit Schmidt-Dengler Mitglied der Grazer Autoren Versammlung (GAV), in deren ebenfalls am Literaturarchiv befindlichem Archiv sich ein Briefkonvolut von Bernt Burchhardt findet.

Auch wenn es sich beim Konvolut "Burchhardt" um eine Marginalie im labyrinthisch sich verzweigenden Schmidt-Dengler-Universum handelt: Die Tatsache seiner schieren Aufbewahrung durch den vielbeschäftigten und nicht zuletzt vielbestürmten Professor verrät einiges über die Verzahnung von Zentrum und Peripherie, die Schmidt-Dengler als "Vorleser der Nation" etablierte.

Er konnte bei weitem nicht alle Fäden, die bei ihm zusammenliefen, in ausreichender Weise verfolgen oder zusammenhalten. Nicht weniges jedoch von dem Geflecht an losen und strikten Knoten, das um seine Person herum entstand, macht der Nachlass auf bemerkenswerte Weise sichtbar. (Helmut Neundlinger, Album, DER STANDARD, 5./6.5.2012)