Die unverwechselbare Stimme der österreichischen Literatur, ein Feuerwerk an Klugheit: Wendelin Schmidt-Dengler (1942-2008). Der österreichische Literaturwissenschafter starb am 7. September 2008 an einer Lungenembolie.

Foto: Heribert Corn

Vielleicht war es ja seine Stimme, die uns in Scharen anlockte. Diese unverwechselbare Stimme, die unter dem Druck der Notwendigkeit, den im Höchsttempo davonstürmenden Gedanken zarte Formulierungsbremsen anzulegen, einen leicht gepressten Unterton annehmen konnte. Nicht dass es Wendelin Schmidt-Dengler nötig gehabt hätte, der vazierenden akademischen Laufkundschaft seine Vorlesungen aus geöffnetem Fenster anzupreisen. Die Studentinnen und Studenten rannten ihm sprichwörtlich die Bude ein, in seinen Seminaren saß man zu Dutzenden auf- und übereinander, und selbst seine Dissertationskolloquien waren besser besucht als die Pflichtvorlesungen mancher seiner Kollegen. In den 1980er-Jahren war es durchaus ein Statement, bei WSD Literaturvorlesungen zu hören.

Es besagte ungefähr, dass man es gern etwas riskanter und weniger brav angehen wollte als gemeinhin an der Wiener Geisteswissenschaftlichen Fakultät üblich, dass man durchaus zu Auseinandersetzungen bereit war, die hier etwas schärfer, pointierter und persönlicher geführt wurden, und vor allem, dass man keine Furcht hatte - oder zumindest keine zeigte -, sich gründlich zu blamieren.

Die Gelegenheit zur Blamage eröffnete kaum je der Vortragende selbst, sondern meistens einer seiner Adepten, dessen Eifer, diskursiv endlich die Augenhöhe des Chefs zu erreichen, aus der ostentativen Widerlegung aller von den Kommilitonen beigesteuerten Argumenten gespeist wurde. Da zerbrachen Freundschaften, die auf Lebensdauer angelegt schienen, da wurden Feindschaften für eben diese Zeitspanne begründet, und dennoch oder möglicherweise gerade deshalb lernte man en passant einiges über bereits damals aus der Mode geratene und vor allem karrieretechnisch völlig überflüssige Dinge wie Respekt, Loyalität und den Mut, den Inszenierungen der gerade gehandelten Wahrheiten des Tages - nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet - auf den Grund zu gehen.

Das konnte man bei Schmidt-Dengler lernen, wenn man genau zuhörte, und mehr noch von ihm selbst, wenn man versuchte, seiner Arbeits- und Denkweise, seiner Methodik in der Auswertung von Primär- und Sekundärquellen anhand seiner Texte näherzukommen. Anmut, Verspieltheit, Freude an der Auseinandersetzung sprechen so klar aus jedem seiner noch so kleinen und im Gesamtkontext seines Werks unscheinbar wirkenden Stücke, dass man das immense Wissen, die gerade furchteinflößende Belesenheit des Autors glatt übersehen könnte. "Das Gute ist leicht. Alles Göttliche läuft auf zarten Füßen", hat Friedrich Nietzsche unbewusst über WSD geschrieben. Eine geringe Ahnung wenigstens, aus welchem umfassenden Wissensfundus dieses Gute seine Leichtigkeit bezog, wurde den Zuhörern der Vorlesungen Schmidt-Denglers zuteil.

Seine diesbezüglichen Anmerkungen zur Entwicklung des österreichischen Romans im 20. Jahrhundert lieferten natürlich viel mehr als das, und wer " vom Fach" bei diesem Rundgang durch die europäische Geistesgeschichte nicht dabei war, hat wohl das Beste an seiner Ausbildung in eben diesem versäumt. Der Eindruck, den dieses Feuerwerk an Klugheit vor allem bei jungen Studierenden hinterließ, war einigermaßen ambivalent: " Niederschmetternd erfrischt" trifft ungefähr den Gemütszustand, der sich nach eineinhalb Stunden einstellte, und die meisten von uns wollten sofort danach mehr davon. Einigen wenigen freilich war es zu viel, sie wurden später hohe Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsbosse, Bischöfe und dergleichen mehr.

Manchmal frage ich mich, ob mein Berufsleben anders verlaufen wäre, wenn ich nicht bei WSD studiert hätte. Dann fällt mir meistens eine Bemerkung ein, mit der er mir eine Seminararbeit zurückgab und die mich auch heute noch vor Scham erröten lässt: "Sie haben sich die Latte sehr niedrig gelegt und sind elegant darüber gesprungen." Ja doch, manches hätte sich wohl anders entwickelt und vermutlich nicht zum Besseren, wenn man als das Gute, das man von ihm lernen konnte, seinen Sinn für Redlichkeit und Unbestechlichkeit setzt. Ich glaube, dass er mir Lesen und Schreiben beigebracht hat. Zu sagen, dass ich ihn vermisse, ihn und seinen funkelnden, mit nachsichtiger Boshaftigkeit grundierten Witz, wäre kräftig untertrieben. Er fehlt mir, er fehlt uns allen schmerzlich.

Jedenfalls ertappe ich mich in letzter Zeit bei rasch gezogenen und wieder weggelegten Proben aus der bedrohlich steigenden Flut an Geschriebenem immer wieder beim Gedanken, was wohl Wendelin Schmidt-Dengler dazu gesagt hätte. Dass ich es mir gut denken kann, tröstet mich keinen Augenblick darüber hinweg, es nicht mehr aus seinem Mund hören zu dürfen. Mit dieser unverwechselbaren Stimme, allegro con brio. (Samo Kobenter, Album, DER STANDARD, 5./6.5.2012)