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Passend zum Buch präsentiert die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein (re.) dieser Tage gemeinsam mit Alfonso Cuaron einen Kurzfilm über "Die Schock-Strategie".

Foto: AP /Luigi Costantini

Naomi Klein: "Die Schock-Strategie", 560 Seiten/€ 22,90, Fischer, Frankfurt.

Buchcover: Fischer
"Die Schock-Strategie" dürfte eine wesentliche Grundlage kommender Debatten über Voraussetzungen eines entfesselten Kapitalismus werden.


Im Lexikon stehen die Begriffe Kapitalismus und Katastrophe nicht weit voneinander entfernt. Dass sie aber ursächlich miteinander zusammenhängen, wurde bisher nur von radikalen Verweigerern des Profitdenkens vertreten. Sie bekommen nun von der wohl prominentesten Kritikerin des Neoliberalismus gewichtige Argumentationshilfe: Naomi Klein vertritt in ihrem neuen Buch Die Schock-Strategie zwar nicht direkt die Meinung, dass der Kapitalismus eine Katastrophe ist, aber sie macht doch deutlich, dass die Katastrophe jene Situation ist, in der sich das kapitalistische System besonders gut zu entfalten vermag.

Sieben Jahre hat die Arbeit an diesem Buch gedauert, das dieser Tage weltweit in zahlreichen Sprachen gleichzeitig erscheint. Die lange Wartezeit nach dem Weltbestseller No Logo hatte offenkundig gute Gründe: Naomi Klein geht es dieses Mal um nicht weniger als um eine Geschichte der Weltwirtschaft in den vergangenen 50 Jahren. Sie scheut sich nicht, unterschiedlichste historische Ereignisse in eine große Erzählung zu integrieren.

Der Begriff des Schocks ist dabei doppelt besetzt: Er steht einerseits für Ereignisse, die mit schockierender Kraft über eine Gesellschaft hereinbrechen, und hinterher einen grundsätzlichen Neuanfang notwendig machen (der Tsunami in Südostasien oder der Hurrikan "Katrina" in New Orleans sind die wichtigsten Beispiele). Schock steht aber auch für gewaltsam herbeigeführte Systemveränderungen, und hier fasst Naomi Klein ihren Begriff ziemlich weit: Von den Putschregimen in Argentinien, Brasilien und Chile in den 60er- und 70er-Jahren über die wirtschaftliche Transformation in Russland in den 90er-Jahren bis zum Krieg im Irak sieht sie eine kontinuierliche Reihe von "Schocktherapien", bei denen es nicht in erster Linie darum geht, freiheitliche Gesellschaften zu schaffen, sondern einem entfesselten Kapitalismus ideale Bedingungen zu schaffen.

Skandale mit System

Die Folterskandale im Irak sind für Naomi Klein in diesem Zusammenhang keine Exzesse, sondern haben System: Nicht nur Individuen unterliegen ihrer Meinung nach der Folter, sondern ganze Gesellschaften werden durch "shock and awe" so eingeschüchtert, dass sie keinen Widerstand mehr leisten, wenn eine Wirtschaftspolitik gegen die Interessen der breiten Mehrheit durchgesetzt wird. Dieser Begriff der "Folter als Metapher" ist die zentrale Idee in dem Buch Die Schock-Strategie.

Der Kapitalismus braucht Katastrophen, um sich seiner Fesseln entledigen zu können – wo die Katastrophen keine natürlichen Ursachen haben, werden sie (in Naomi Kleins Modell bevorzugt von der CIA) herbeigeführt. Die Rolle der Anstifter in diesem Szenario fällt den Ökonomen der Schule von Chicago zu, namentlich Milton Friedman, der ständig auf der Suche nach Anwendungsorten für seine Theorie gänzlich ungelenkter Märkte war. Er fand sie in Ländern, in denen "Reformen" mit Gewalt durchgesetzt wurden. Chile unter General Pinochet ist für Naomi Klein das erste Modell, der Irak nach 2002 das aktuellste Modell für eine Politik, der es in Wahrheit nicht um "nation building" geht, sondern um die Umlenkung gesellschaftlicher Ressourcen (Steuern, Rohstoffe, …) von der öffentlichen in die private Hand.

Die symbolträchtigste Katastrophe (der größte Schock) der letzten Jahre, 9/11, wurde in der Perspektive von Naomi Klein zum wichtigsten Auslöser für die Radikalisierung dieser Politik. Unter dem Stichwort des "Krieges gegen den Terror" habe die Bush-Regierung eine weit reichende Privatisierung der Sicherheitsaufgaben des Staates vorangetrieben, und damit erst einen "katastrophenkapitalistischen Komplex" geschaffen (der militärisch-industrielle Komplex alten Andenkens in neuer Ausprägung). Wenn im Irak private Sicherheitsfirmen nicht nur patrouillieren, sondern auch verhören (und foltern), dann nimmt dieser Komplex konkrete Gestalt an.

Die Schock-Strategie hat, gerade auch wegen der Vereinfachungen, alle Züge einer künftigen "großen Theorie" der globalisierungskritischen Bewegung – das Buch stellt der vagen Begrifflichkeit des seit Erscheinen eher spurlos verpufften Empire von Michael Hardt und Toni Negri ein faktenreiches Organigramm mit Opfer und Tätern entgegen.

Es gibt ein positives Modell (die gemischten Wirtschaften mit einem starken öffentlichen Sektor und einer intervenierenden Ausgabenpolitik des Staates), es gibt eine fundamentalistische Ideologie (die neoliberale Vorstellung von "reinen" Märkten), es gibt Handlanger und Schurken (bei der Regierung Bush läuft dann fast alles zusammen), und es gibt als Leitmotiv die flexibel handhabbare These, dass fast alle politischen Umstürze der vergangenen fünfzig Jahre letztendlich gelenkte Katastrophen im Dienst der Durchsetzung eines entsicherten Kapitalismus waren. Das geht selbst über die detaillierten Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gewalt, wie sie von Noam Chomsky beschrieben wurden, noch hinaus.

Beim Filmfestival in ihrer Heimatstadt Toronto hat Naomi Klein in der vergangenen Woche nicht nur das Buch präsentiert, sondern auch einen Kurzfilm, den sie zusammen mit dem Regisseur Alfonso Cuaron (Children of Men) hergestellt hat: einen kurzen Agitpropstreifen aus Found Footage, in dem die Energiestöße der Elektroschocks aus Psychiatriefilmen der 50er-Jahre eine neue Richtung bekommen: Sie sollen klarmachen, dass die Menschheit längst zum überwiegenden Teil auf der Folterbank liegt.

In den kommenden drei Monaten wird sie auf Welttournee gehen, und die These von Die Schock-Strategie an zahlreichen Orten persönlich zur Diskussion stellen. Die Graswurzelrevolution bleibt auch im Zeitalter der Folterökonomie und des katastrophenkapitalistischen Komplexes die einzige Strategie, die es erlaubt, sich den Schockwirkungen des Wirtschaftslebens zu entziehen. (Bert Rebhandl /DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.09.2007)