Der Schriftsteller Gerhard Roth.

Fotos rechts: Flüchtlingslager Deutschfeistritz. Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem. Die Gesellschaft zeigt ihnen die kalte Schulter.

Foto: Christian Fischer
Michael Chalupka, Direktor der Diakonie, hat für ein Gespräch in Graz Zeit. Er berichtet von den Folgen der Verschärfungen des Fremdengesetzes, kritisiert die lange Dauer der Asylverfahren und kennt auch die Ursache: Die Beamtenschaft sei auf 10.000 Anträge im Jahr eingerichtet. In den vergangenen zwei Jahren habe es aber 30.000 gegeben, ohne dass personell darauf reagiert worden sei. Erst seit eineinhalb Jahren gebe es einige Beamten mehr. Durch die schlechte Personalausstattung fälle die erste Instanz fehlerhafte Urteile. 2005 seien 40 Prozent aller erstinstanzlichen Urteile wegen Verfahrensmängeln aufgehoben worden. Er verlangt, dass schon während des ersten Asylverfahrens eine Arbeitserlaubnis erteilt werde. Auch Deutschkurse müssten intensiver durchgeführt werden. Damit ein Asylant eine Arbeitserlaubnis als Selbstständiger erlangen könne, müsse er einen behördlichen Spießrutenlauf über sich ergehen lassen, 40 Prozent der Immigranten arbeiteten unter ihrer Qualifikation. Es gebe rund 1000 13- bis 14-jährige Flüchtlinge, sie dürften aber nach der Hauptschule nicht als Lehrlinge einer Ausbildung nachgehen.

Der Verwaltungsgerichtshofpräsident Clemens Jabloner sage zum Dublinabkommen, zitiert Chalupka, es sei unrecht. Man könne nicht jemanden einsperren, um festzustellen, welcher Staat für ihn zuständig sei. Wenn man ein Asylverfahren nach sechs Jahren nicht abschließen könne, ergänzt Herr Chalupka, müsse man die Antragsteller automatisch legalisieren. Er betont auch die Vorzüge der NGOs wie Caritas und Diakonie gegenüber European Homecare in der Flüchtlingsbetreuung: Ihre Mitarbeiter müssten mit dem Gewissen vereinbaren können, wenn sie jemanden zurückschickten. Das könne nur in der Überzeugung geschehen, dass die Betreffenden keinen Schaden erlitten.

Im ehemaligen Gästehaus der Diakonie im steirischen Deutschfeistritz, das von der evangelischen Kirche 1956 als Landschulheim für Mädchen erbaut wurde, leben 69 Flüchtlinge: 60 Tschetschenen, sechs Georgier und drei Armenier in 36 Zimmern mit Fernsehapparaten. Die Anlage ist zwölf Gehminuten vom Ort entfernt. Die Eltern der untergebrachten Familien sind 20 bis 40 Jahre alt und haben zwei bis drei Kinder. Es gibt unter ihnen eine Lehrerin, Handwerker und Männer, die Bauern waren, aber keine berufliche Ausbildung genossen haben. Die jungen Frauen würden, sagt man mir, von den Familien verheiratet, es habe sogar schon eine Hochzeit im "Lager" gegeben. Zuerst würde ein Treffen "unter Beobachtung" vereinbart. Anschließend würde die 16- bis 17-jährige Braut gefragt, ob sie den Mann "möchte". Sei das nicht der Fall, würde sie so lange weinen, bis man ihre Entscheidung akzeptiere oder sie sich füge. Der junge Mann könne sich, wenn er die Frau nicht wolle, nur wie "ein Idiot" verhalten, um sie abzuschrecken.


Foto: Gerhard Roth

Die wichtigsten Informationen erhalte ich gleich zu Beginn: Am Tag sind für die Flüchtlinge drei Mitarbeiter ansprechbar, in der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen einer. Es gibt ärztliche Betreuung durch einen Doktor im Ort, bei Bedarf mache auch ein Psychiater eine Visite. In den letzten zwei Jahren kamen im Landeskrankenhaus Graz sieben Kinder von Flüchtlingen aus dem Lager zur Welt. Den Hausputz führe jeweils eine Frau für 15 Euro pro Woche durch, einmal, am Sonntag, erfolge ein Generalputz, der aber nur von Frauen durchgeführt werde. Alle Nahrungsmittel würden von den Familien selbst eingekauft, 110 Euro pro Monat und Person stünden dafür zur Verfügung. Den Weg in das Dorf hin mit leeren und zurück mit vollen Taschen machten allerdings nur die Frauen.

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Manche Flüchtlingsfamilien warten schon seit Öffnung des Quartiers vor drei Jahren, einzelne mehr als vier Jahre auf den Asylbescheid. Die meisten sagen, sie würden nach Tschetschenien zurückkehren, sobald es dort wieder friedlich sei. Und alle bestätigen, dass es hier besser sei als in den Gasthöfen, in denen sie vorher untergebracht waren. Über Traiskirchen hört man Unterschiedliches: Der Großteil, der nach 2004 in das Lager kam, war zufrieden, doch jene aus der Zeit vorher, als das Lager überfüllt war, klagen, dass die Unterbringung "entsetzlich" gewesen sei und das Essen schlecht - "immer Makkaroni". Täglich seien am Morgen zwischen 7 und 8 Uhr vier bis fünf Polizisten erschienen und hätten Kontrollen vorgenommen (da nachts Flüchtlinge über den Zaun geklettert und im Lager verschwunden seien, wie mir Wilhelm Brunner später erklärt).


Foto: Gerhard Roth

Einige Bewohner spielen mir ein Videoband mit Aufnahmen aus dem Tschetschenienkrieg vor, das die Frauen weinen lässt: brennende und zerstörte Häuser, Gehängte, Lastwagenwracks, Rauchschwaden über Ruinen. Es folgt eine Dokumentation in Schwarz-Weiß über tschetschenische Widerstandskämpfer. Ich erfahre, dass alle Lagerinsassen Muslime sind, der Großteil könne aber den Koran nicht lesen, da er nicht ins Tschetschenische übersetzt sei. Sie würden daher den Inhalt nur aus der mündlichen Überlieferung kennen. Über den Alltag erfährt man nicht viel, weil niemand über Schwarzarbeit sprechen will. Da die Männer zwangsläufig untätig sein müssten, schliefen sie lange und sähen nachts fern, einzelne säßen an Computern, die sie aus dem Sperrmüll geklaubt und selbst zusammengebaut hätten. Überall auf den Dächern, fällt mir auf, gibt es Fernsehschüsseln, denn es wird kaum das ORF-Programm angeschaut, stattdessen das russische Fernsehen, um vielleicht etwas über Tschetschenien zu erfahren. Die Kinder gingen mit einer Ausnahme in den Kindergarten beziehungsweise besuchten die Volks- oder Hauptschule. Natürlich besäße jede Familie ein Handy. Auch in der Fremde funktioniert das tschetschenische Klanwesen, man sei untereinander stets in Verbindung und tausche Neuigkeiten und Erfahrungen aus.

Vor allem über das Sozialsystem, über das Klarsichtmappen existieren, wisse man genau Bescheid. Gut Qualifizierte ließen sich auch vermitteln, wird von der Betreuerin betont, so arbeiteten zwei ehemalige Bewohner bei Magna - dort sei man mit ihnen sehr zufrieden. Die Prognosen der Betreuer über die Zukunft der Mehrheit der tschetschenischen Flüchtlinge kommen nur zögerlich. Schon aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse seien die Chancen reduziert. Nur drei Männer würden regelmäßig den Deutschkurs besuchen - ich selbst stelle fest, dass ich am besten mit den Kindern, die hier zur Schule gehen, und einigen Frauen, die sich Mühe geben, spreche. Die Männer blieben hingegen fast alle stumm. Sie hätten keine Lebensplanung, säßen nur da und warteten, erfahre ich. Die Betreuerinnen, Ilse Steinort und Katharina Laube, eine Schweizerin, führen mich durch beide Gebäude und lassen mir hierauf freie Hand.


Foto: Gerhard Roth

In der Gemeinschaftsküche bäckt eine junge Frau mit Kopftuch eine Torte, eine andere bereitet eine Suppe aus Hühnerklein zu, ein Bub fährt mit einem Dreirad über den Parkettboden, und ein Mädchen mit großen Augen schaukelt ein Baby. Die Zimmer sind wie in einem bürgerlichen Gasthof möbliert, und im zweiten Gebäude gibt es zwei Schulungsräume, in denen Landkarten mit der Aufschrift "Die wirtschaftliche Nutzung Europas" oder "Die Erde. Politische Übersicht" hängen. Kinder und Frauen und zwei Männer stellen sich auf meinen Wunsch davor auf, und ich fotografiere sie. Als ich einen Buben bitte, sich zu vier Mädchen zu stellen, lehnt er es selbstbewusst ab. Der Studienraum mit Polsterstühlen und einem Flipchart, dessen erste Seite mit Begriffen beschrieben ist, über die Kinder mit Filzstiften Linien gekritzelt haben, ist leer. Der Bub, der mir gefolgt ist, nimmt jetzt stolz vor der Tafel Aufstellung, die Hände in den Taschen einer mit Tarnmuster gefleckten Hose. Die Panoramafenster geben einen weiten Blick auf die bewaldete Landschaft frei. Der muslimische Gebetsraum im selben Stockwerk hat weiße Wände und einen weißen Teppichboden. Darauf liegt ein kleiner Läufer in einer Ecke, der nach Mekka zeigt. Zu meiner Überraschung schlägt der Junge, der mich weiter begleitet hat, lachend Räder und wirbelt im Gebetsraum übermütig durch die Luft, als versuche er, die Schwerelosigkeit zu überwinden.

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Ich lehne mich an den Türstock und schaue ihm zu. Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem. Die Gesellschaft zeigt den jungen Männern und Frauen zumeist die kalte Schulter. Ihre Ausbildung ist oft auch mangelhaft, und wenn es um einen Job geht, werden "echte" Inländer vorgezogen. Spätestens seit den Vorfällen in Paris in den Banlieues und in London nach dem U-Bahn-Anschlag vor zwei Jahren, der 52 Menschen das Leben kostete und von jungen muslimischen Selbstmordattentätern geplant worden war, die englische Staatsbürger waren, weiß man um die Probleme. Viele aus den verlorenen Generationen, die den vergeblichen Wunsch hatten, sich zu integrieren, wendeten sich, nachdem sie die Zurückweisung durch die Gesellschaft erfahren hatten, enttäuscht radikalen muslimischen Organisationen zu.

Ich warte, bis der Bub auf den Boden kullert und hinausläuft, und gehe noch einmal zurück in den Schulungsraum mit Landkarten. Dort unterrichtet jetzt eine blonde Lehrerin drei tschetschenische Mädchen. Eines von ihnen hat soeben seine Hausaufgabe gemacht. In schöner Schrift ist mit blauer Tinte fehlerlos in das Heft geschrieben: "... Hannes hält einen Frosch in der Hand. Seine Mutter mahnt ihn: 'Sei vorsichtig und quäle ihn nicht. Frösche sind sehr empfindliche Tiere.' Schiebt die Bänke auf die Seite, damit wir mehr Platz haben! Zieh dir eine warme Weste an. Draußen bläst ein kalter Wind." Zu Hause lese ich die "Einzelfälle", die mir Chalupka zu unserem Gespräch mitgebracht hat, die Leidenswege von Flüchtlingen im Papierkrieg mit den Behörden.


Foto: Gerhard Roth

Auch die Fremdenpolizei kennt Einzelfälle und stellt sie gleich für das Ganze. Eine halbe bis eineinhalb Millionen illegaler Migranten hielten sich in Europa auf, sagt mir der hohe Beamte. Ich spüre sein Misstrauen und seinen Unwillen, da er nicht den Anschein einer Rechtfertigung erwecken will. Die Integration in Deutschland scheitere an den Millionen Arbeitslosen im eigenen Land, fährt er fort. Darüber hinaus suchten sieben Millionen legale Migranten in Europa Arbeit. Der Großteil der Illegalen habe keine Ausbildung und nur mangelhafte Sprachkenntnisse. Sie belasteten, sobald sie legal würden, das Sozialsystem. In den letzten vier Jahren hätte sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Wien verdoppelt. Der Beamte führt das vor allem auf die Migration zurück. Er sieht in den NGOs und den Grünen seine wahren Gegner, die ihm die Ausführung seiner Pflicht erschwerten und ihn verleumdeten. Er sei kein FPÖ-Wähler, fügt er von selbst hinzu. Er lässt mich kaum zu Wort kommen, und sein Vortrag ist eine Mischung aus Information und Belehrung. Schubhaft würde nur verhängt, weil die Häftlinge nicht den behördlichen Bescheiden Folge geleistet hätten, alteriert er sich. Wären sie ausgereist, wäre ihnen nichts geschehen.

Aber wohin, frage ich mich, wenn sie zu Hause keine Existenzmöglichkeit vorfinden? Die meisten, fährt der Beamte fort, hätten keine Papiere, aber bei Eheschließungen mit "Einheimischen" tauchten sie zu 50 Prozent wieder auf, obwohl sie sonst nie vorhanden gewesen seien. Eine Chinesin habe vier Identitäten besessen, bevor sie am Standesamt die richtige angegeben habe. Hierauf sei sie wegen illegalen Aufenthalts abgeschoben worden. Der erste Versuch habe wegen ihres Tobsuchtsanfalles abgebrochen werden müssen. Für den zweiten Versuch seien drei Beamte nötig gewesen. Die Kosten hätten sich auf 6000 Euro belaufen, der Bescheid sei dem Ehemann zugestellt worden. Das sei die Gesetzeslage der Steuerzahler, sagt der Beamte, während ich an den Mann und die Frau denke.

Unter den Migranten gebe es auch mehr und mehr Kriminelle, fährt er fort. Werde ein des Einbruchs verdächtigter Ausländer verhaftet, suche er sofort um Asyl an, und der damit befasste Beamte dürfe sich von der Vorgeschichte laut Gesetz nicht beeinflussen lassen. Er dürfe nur die Asylgründe abwägen. Der Beamte erklärt mir jedes Mal, wenn er mir etwas gesagt hat, wann ich ihn zitieren dürfe und wann nicht, weshalb ich schließlich ganz darauf verzichte, seinen Namen zu nennen. Er ist ein durch und durch beamtenaristokratischer Mann, selbstbewusst und gekränkt über Missverständnisse, Verleumdungen und Denunziationen seiner Gegner, die vorwiegend mit Unterstellungen arbeiten würden. Er halte sich an das Gesetz, betont er immer wieder und stellt es nicht infrage. Auf die Nennung des Fremdenpolizisten in der Bezirkshauptmannschaft Baden, der angeblich mit Vorliebe negative Bescheide ausstelle, reagiert er abwehrend und mit der apodiktischen Verteidigung, der Beamte verrichte seine Arbeit sehr gut, er kenne ihn persönlich. (Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 22.5.2007)