Tálos: "Gesamte Finanzierung des Sozialsystems überdenken"

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Im Band "Sozialstaat Österreich zwischen Kontinuität und Umbau - Eine Bilanz der ÖVP/FPÖ/BZÖ-Koalition" begründen Emmerich Tálos und Herbert Obinger, warum der Regierungswechsel im Jahr 2000 nicht nur eine "Wende" der Machtverhältnisse, sondern auch eine der politischen Strategien und Aktionen war. Das Buch ist im September im VS Verlag erschienen.

Die Politikwissenschafter Emmerich Tálos und Herbert Obinger haben sich mit der Frage beschäftigt, welche Spuren die schwarz-blau/orange Regierung in Österreichs Sozialsystem hinterlassen haben. Ihr Fazit: Die "Wende" war auch eine sozialpolitische. Im Gespräch mit Maria Sterkl bescheinigt Tálos der BZÖVP-Regierung eine "Politik der unsozialen Treffsicherheit" und wünscht sich von der neuen Regierung eine Entlastung der unselbständigen Arbeit - zu Ungunsten der Unternehmen.

derStandard.at: Worin bestand die "Wende", die im Jahr 2000 übers Land kam - sozialpolitisch gesehen?

Tálos: Zum ersten Mal in der Geschichte des österreichischen Sozialstaats wollte eine Regierung eine "neue Sozialpolitik" machen, die in erster Linie nur den "wirklich Bedürftigen" zugute kommen und mehr auf "Eigenverantwortung" setzen sollte. Diese Vorstellungen haben sich dann in der konkreten Sozialpolitik deutlich niedergeschlagen.

derStandard.at: Inwiefern?

Tálos: Es gab beträchtliche Leistungseinschränkungen, zum Beispiel in der Pensionsversicherung. Es ist nicht mehr garantiert, dass die Menschen im Alter ihren Lebensstandard gesichert haben.

derStandard.at: Aber es gab doch Druck zur Veränderung.

Tálos: Es gab Druck, zweifellos: Veränderungen waren notwendig. Aber anders als in anderen EU-Ländern ging es in Österreich nicht bloß ums Pensionssystem, sondern vor allem um Budgetkonsolidierung. Das Pensionssystem wurde fürs Budget instrumentalisiert. Außerdem hat die Regierung die Frage des Finanzierungsmodus völlig außer acht gelassen. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Modus wurde fortgesetzt. Für die Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung wird noch immer nur ein Indikator der Wertschöpfung herangezogen, und zwar die Lohnsumme. Dabei hat sich die Realität in den Betrieben völlig verändert, viele Unternehmen kommen mit immer weniger Menschen aus. Wer das übersieht, nimmt dem Pensionssystem die Finanzierungsbasis. Und jene Betriebe, die noch mehr Menschen wegrationalisieren, sind Nutznießer der Situation.

derStandard.at: Was würden Sie der kommenden Regierung raten, um das Pensionssystem auf stabile Beine zu stellen?

Tálos: Erstens sollte sich die künftige Regierung mehr um den Arbeitsmarkt kümmern. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist ein wesentlicher Faktor bei der Armutsvermeidung, sie schafft aber auch Ressourcen für die Sozialversicherung.

Außerdem sollte die gesamte Finanzierung der sozialen Sicherung überdacht werden. Dazu gehört auch die einer Grundsicherung, von der jetzt öfter die Rede ist. Wenn die Grundsicherung steuerlich finanziert werden soll, muss man bedenken, dass der Anteil der Verbrauchssteuern gegenüber jenem der Unternehmenssteuern beträchtlich gestiegen ist. Da besteht also die Gefahr, dass jene Menschen, die die Grundsicherung am meisten brauchen, sie sich quasi über die Mehrwertsteuer selber erkaufen müssen. Oder dass sie in erster Linie wieder nur von den unselbständig Erwerbstätigen finanziert wird. Das gilt es zu beachten.

Grundsätzlich ist so eine Grundsicherung aber nicht nur als Absicherung im Pensionssystem wichtig. Das Modell der lebenslangen Vollerwerbsarbeit ist im Schwinden, Menschen verlieren öfter ihre Jobs und müssen neue suchen, sie sind oft nicht angestellt. Die Grundsicherung gewährt den Menschen in diesem unsteten Arbeitsmarkt Teilhabechancen in der Gesellschaft.

derStandard.at: Ist das nicht ein Widerspruch? Einerseits sprechen Sie von Integration in den Arbeitsmarkt, andererseits geben Sie zu, dass das in gewohnter Form gar nicht mehr möglich ist.

Tálos: Nein, das ist kein Widerspruch. Einerseits trägt die Regierung auch Verantwortung für die Entwicklung am Arbeitsmarkt. Andererseits ist das Rad nicht mehr zurückschraubbar, die Erwerbsbiografien werden immer mehr diskontinuierlich. An beiden Hebeln muss man ansetzen.

derStandard.at: Stichwort Arbeitslosigkeit: Wie kann gelungene Arbeitsmarktpolitik aussehen?

Tálos: Zum Gelingen kann Nachfragepolitik seitens des Staats beitragen. Es gibt viel Bedarf, der nicht gedeckt ist – etwa bei den Pflegeleistungen oder in der Kinderbetreuung. Arbeitslosigkeit ist auch eine Frage der Qualifikation. Die Bildungspolitik der letzten Jahre war überhaupt nicht mehr adäquat für das, was heute gefordert ist Ein weiterer Schritt bestünde darin, die Lohnnebenosten zu reduzieren. Und da gibt es zumindest grundsätzlich einen breiten Konsens. Was fehlt ist die politische Umsetzung. Und zu guter Letzt braucht aktive Arbeitsmarktpolitik Geld. 2005 gab es vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit dafür realiter aber weniger Mittel als 2000.

derStandard.at: Sie wollen Arbeit entlasten – und Steuererhöhungen für Unternehmen?

Tálos: Ja, auf jeden Fall. Hier ist eine Änderung in der Steuerpolitik erforderlich. Die Unternehmen haben bei den jüngsten Steuerreformen stark profitiert. Wenn diese Politik fortgesetzt würde, wo soll der Staat die Ressourcen für soziale Aufgaben hernehmen? Auch die Abgabenmoral der Unternehmen muss sich ändern. Bedenken Sie, was für hohe Ausstände die Unternehmen bei den Krankenkassenbeiträgen haben. Das übersteigt bei weitem das Defizit der Kassen!

derStandard.at: Besteht dann nicht die Gefahr, InvestorInnen abzuschrecken?

Tálos: Das ist ein altes Argument, das meiner Meinung nach so verallgemeinert nicht zutrifft. Wenn steuerliche Belastung ein negatives Kriterium ist, dann wundert mich, warum in manchen EU-Ländern noch investiert wird - Schweden und Dänemark zum Beispiel. Natürlich: Je weniger Steuern Unternehmen zahlen, desto günstiger für sie. Dem gegenüber steht aber, dass Regierungen auch soziale Verantwortung haben.

derStandard.at: Die SPÖ hat bereits angekündigt, als Regierungspartei Teile der letzten Pensionsreform wieder zurückzunehmen. Halten Sie das für sinnvoll?

Tálos: Was wirklich Sinn machte, war die Pensionsharmonisierung. Das soll grundsätzlich nicht verändert werden. Was beseitigt werden soll: Bauern und Selbständige zahlen noch immer beträchtlich weniger Pensionsbeitrag als unselbständig Beschäftigte. Was die Leistungseinschnitte betrifft: Die Einschränkungen, die jetzt schon greifen, sind korrigierbar.

derStandard.at: Erreichte die Regierung ihr Ziel, die Treffsicherheit sozialer Maßnahmen zu erhöhen ?

Tálos: Nein, das ist vollends misslungen. Was realisiert wurde, war unsoziale Treffsicherheit. Beispiel Armut – und wenn jemand soziale Maßnahmen vor allem braucht, dann die Armen. Im Regierungsprogramm 2000 finden sich dazu nur ganz kryptische Hinweise, das Regierungsprogramm 2003 kennt den Begriff Armut nicht. Und obwohl die Regierung sich mit der Erhöhung des Ausgleichszulagenrichtsatzes in der Pensionsversicherung geschmückt hat, liegt dieser heute unter der Armutsschwelle von 2003, Inflation gar nicht einberechnet.

derStandard.at: Eine in Ihrem Buch wieder gegebene Theorie besagt: Je größer der Zusammenhalt innerhalb eines politischen Akteurs und je größer die ideologische Distanz zwischen zwei Akteuren ist, desto schwieriger ist es, den Status quo zu ändern. Umgelegt auf eine Große Koalition: Heißt das, im Fall von Rot-Schwarz droht der absolute Stillstand?

Tálos: Eine Große Koalition könnte auch Starrheit oder Stillstand bedeuten. Ich gehe aber davon aus, dass der objektive Problemdruck und der politische Druck, sich zu bewegen, groß sein werden. Die ÖVP hat ja in den letzten Jahren viel Umstrittenes gemacht. Und zum Teil ist sie genau dafür abgewählt worden. Die Wähler und Wählerinnen sanktionieren, das sieht man daraus. Die ÖVP wird sich bewegen müssen. Auf der SPÖ lastet ein beträchtlicher Erwartungsdruck. Wenn sie nur Stillstand produzieren würden, wäre das sicher zum Nachteil beider Parteien.

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