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Foto: APA/EPA/CARLOS DE SAA
Wien - 2.500 Afrikaner kamen in den letzten fünf Jahren beim Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben. Das besagt eine Studie verschiedener Entwicklungsinitiativen vom Herbst 2005. Laut Berichten der spanischen Tageszeitung El Pais sind es 500.000 Afrikaner, die derzeit von Mauretanien nach Europa gelangen wollen. Bisher war die Zahl der Flüchtlinge in Mauretanien nur mit 10.000 bis 15.000 beziffert worden.

Der Sprecher des UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR in Österreich, Roland Schönbauer, relativiert im derStandard.at-Gespräch die kolportierte Zahl von einer halben Million Emigrationswilligen. In der Vergangenheit hätten sich diese oft als zu hoch erwiesen, sagt er, nicht ohne auf die Brisanz der Flüchtlingsproblematik hinzuweisen.

Erst am Mittwoch ereignete sich vor den Kanarischen Inseln ein Flüchtlingsdrama bei dem mindestens 24 Menschen ertrunken sind. Nach Polizeiangaben wurden am gleichen Tag rund 400 afrikanische Flüchtlinge in neun überfüllten Booten aufgegriffen - so viele wie noch nie zuvor an einem einzigen Tag.

Kein Einzelfall: Abseits der von den Medien memorierten großen Tragödien sterben regelmäßig Menschen aus Afrika auf ihrer Flucht nach Europa. Was ist seit den Flüchtlingsdramen rund um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokka geschehen? Versuch einer ausführlicheren Chronologie der Ereignisse:

Letzte Septembertage 2005 in Melilla und Ceuta

Rund 300 afrikanische Einwanderer versuchten in der letzten Septemberwoche gewaltsam, sich Zugang nach Melilla, der spanischen Exklave an der Mittelmeerküste Marokkos zu verschaffen. Die spanischen Behörden hatten im Jahr 2005 bis zu diesem Zeitpunkt bereits rund 12.000 versuchte illegale Grenzübertritte gezählt. Mit selbst gebauten Holzleitern wollten die Einwanderer den Absperrzaun um die Exklave überwinden. Mitglieder der Militärpolizei Guardia Civil gingen gegen die Eindringlinge vor. Bis Ende Oktober starben dabei mindestens 14 Flüchtlinge.

Erstes Todesopfer Joseph Abunaw

Erstes Todesopfer dieses harten Vorgehens ist Joseph Abunaw. Der Flüchtling mit Fachhochschulabschluss im Hotel-und Gaststättengewerbe sah seine Zukunft in Europa. Seine Schwester Arrah Abunaw ging vor vor Ort den Umständen seines Todes auf den Grund: Joseph wurde von einem spanischen Grenzpolizisten mit dem Motorrad verfolgt, verprügelt und auf marokkanisches Gebiet zurückgetrieben. Er starb nur wenige Stunden danach an den tiefen Verletzungen durch ein Bajonett. "Menschen wie mein Bruder sind nicht verrückt. Sie durchqueren die Sahara nicht aus einer Laune heraus, sondern weil sie ein besseres Leben suchen", gab Arrah Abunaw zu bedenken.

Todesschüsse in Ceuta

In Ceuta starben fünf Menschen bei dem Versuch, in die ebenfalls auf nordafrikanischem Boden liegende spanische Stadt zu kommen, durch Schüsse. Spanien bestritt zunächst, dass mit scharfer Munition auf die illegalen Einwanderer gefeuert wurde. Der spanische Obduktionsbericht stellte später fest, dass die Kugeln von marokkanischen Grenzwächtern abgefeuert wurden.

1./2. Oktober 2005

Im tunesischen Hammamet treffen die Außenminister von elf Mittelmeer-Anrainerstaaten zusammen, um sich für eine grenzübergreifende Zusammenarbeit im Kampf gegen die illegale Einwanderung auszusprechen.

2. Oktober 2005

Vor den kanarischen Inseln verschwinden knapp 20 Menschen, die illegal nach Spanien gelangen wollten. Mit großer Sicherheit sind sie ertrunken. Ein mit 34 Flüchtlingen besetztes Boot war vor der Insel Fuerteventura gekentert. Nur 17 der Bootsinsassen konnten gerettet werden.

Am selben Tag wurden 147 Nordafrikaner festgenommen, die auf einem Boot über die Straße von Gibraltar nach Spanien gelangen wollten. An der Südküste des spanischen Festlands griff die Polizei 92 illegale Immigranten auf.

3. Oktober 2005

Rund 700 Schwarzafrikaner stürmten abermals den Grenzzaun von Melilla. 350 Menschen gelang der Durchbruch an zwei Stellen des Zauns. Diese als "sicher" geltenden Stellen wurden weniger streng beobachtet, weil man kurz zuvor den Zaun von drei auf sechs Meter erhöht hatte.

In den Tagen und Wochen danach wurde der Zaun fast durchgängig auf sechs Meter erhöht und mit Stacheldraht befestigt. Weiters wurden Bewegungsmelder, Infrarotkameras und anderes technisches Gerät installiert, das die Einwanderungswilligen bereits 1,5 Kilometer vor der Grenze orten soll. Ebenso wurden rund 500 spanische Soldaten zum Grenzschutz abkommandiert. Militärs, die nicht die geeignete Ausbildung haben, um Flüchtlinge ohne Schusswaffengebrauch zurückzuweisen, bemerkten Kritiker.

6. Oktober 2005

Flüchtlinge versuchten tagelang die Grenzzäune der spanischen Städte Melilla und Ceuta in Marokko zu überwinden. Bei einem Sturm am 6. Oktober werden mindestens sechs Immigranten erschossen.

7. Oktober 2005

Die Lage in Ceuta und Melilla spitzt sich durch die Anwesenheit von über tausend Obdachlosen, die auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft durch die Straßen irren, zu. Staatliche Einrichtungen sind mit der Situation überfordert. Mit Charterflügen werden viele der afrikanischen Immigranten aus den spanischen Exklaven evakuiert.

Die Einwohner fordern bei Protestkundgebungen Sofortmaßnahmen der spanischen Regierung. Die oppositionelle spanische Volkspartei (PP) wirft dem sozialistischen Premier Zapatero vor, mit seiner Aufnahmepolitik die Illegalen mit seiner Politik der offenen Arme "anzulocken": Im Zuge eines außerordentlichen Aufnahmeverfahrens waren im Frühling 2005 mehrere hunderttausend Ausländer ohne Papiere, die Wohnsitz und Arbeitsplatz in Spanien nachweisen konnten, "legalisiert" worden.

8. Oktober 2005

Ärzte ohne Grenzen in Marokko schlagen Alarm. "Wir haben hunderte von Immigranten mitten in der Wüste gefunden". Die Menschen wüssten nicht, wo sie seien, hätten keine Nahrung und kein Wasser. Nach unterschiedlichen Berichten sterben in diesen Tagen acht bis 24 Menschen aufgrund dieser Form der Abschiebung in der Wüste.

9. Oktober 2005

SOS Rassismus und Ärzte ohne Grenzen bringen schwere Vorwürfe gegen Marokko vor: Das Land scheine die internationale Gemeinschaft an der Nase herumzuführen. Während eine Gruppe illegaler Einwanderer aus der spanischen Exklave Melilla, die zuvor in der Wüste ausgesetzt wurden, nach Protesten wieder in den Norden Marokkos geschafft würden, um sie von dort in ihre Herkunftsländer auszufliegen, würden andere in den Süden verschleppt.

10. Oktober 2005

Marokko lässt mittlerweile das bewaldete Gelände entlang des Grenzzaunes in Melilla roden. Es werden Vorbereitungen getroffen auf marokkanischer Seite eine Mauer und einen drei Meter tiefen Schutzgraben zu errichten.

11. Oktober 2005

Auf internationalen Druck und unter dem Eindruck der von Kamerateams dokumentierten Menschenrechtsverletzungen stoppt Marokko die Rückführung der illegalen Einwanderer und holt hunderte in der Wüste ausgesetzte Flüchtlinge nach Nordmarokko zurück. - Einige Flüchtlinge hatten es geschafft, per Handy auf ihre dramatische Lage hinzuweisen: "Wir werden hier sterben. Bitte, helft uns!"

13. Oktober 2005

Die Suche nach afrikanischen Flüchtlingen, die die Behörden im Wüstengebiet der Westsahara ihrem Schicksal überlassen hatten, dauert an. In Marokko beteiligten sich Hubschrauber der Vereinten Nationen an der Suche nach vermuteten 250 in der Wüste herumirrenden Afrikanern.

18. Oktober 2005

Marokko schließt die Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge weitgehend ab. Mehr als 2.500 illegale Zuwanderer aus den Staaten West- und Zentralafrikas wurden über Luftbrücken in ihre Heimatländer zurückgebracht. Die EU-Kommission kündigt für März 2006 den konkreten Vorschlag zur Gründung eines Fonds für Notlagen im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung an.

31. Oktober 2005

Ein kleines Boot mit zwei toten afrikanischen Flüchtlingen wird im Süden Spaniens angespült.

4. November 2005

In Toulouse beschließen die südlichen EU-Staaten gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, um der illegalen Einwanderung vor allem aus afrikanischen Ländern Einhalt zu gebieten. "Humanitäre Dramen" wie Anfang Oktober in den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko dürften sich nicht wiederholen, sagte Frankreichs Außenminister Philippe Douste-Blazy.

22. November 2005

Marokko bittet die EU um mehr Hilfe bei der Abwehr illegaler Einwanderer. Die Entscheidung, Tausende afrikanischer Einwanderer, die über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in die EU gelangen wollten, zurückzuschicken, habe rund 80 Millionen Euro gekostet. Marokko habe die illegale Einwanderung nach Europa um 40 Prozent reduziert. Marokko warte nach wie vor auf die Auszahlung von 40 Millionen Euro, die die EU für eine Stärkung der Grenzkontrollen in Aussicht gestellt hatte.

14. Dezember 2005

Spanien zieht seine Militärs von den Grenzanlagen in Ceuta und Melilla ab. Marokko stoppte mittlerweile den Zustrom von Flüchtlingen und schickte mehr als 2000 Afrikaner in deren Heimatländer zurück. Seither wurden von den Grenzen der spanischen Exklaven von keinen Zwischenfällen mehr berichtet.

März 2006

Fast 2.000 Menschen haben nach Angaben der spanischen Behörden in den ersten beiden Märzwochen versucht, über die gut 1.000 Kilometer lange Strecke durch den Atlantik auf spanisches Territorium zu gelangen. Nach Angaben des Roten Halbmonds kamen seit November zwischen 1.200 und 1.300 Flüchtlinge auf der Fahrt ums Leben.

4. März 2006

Bei zwei Bootsunglücken vor der Küste von Mauretanien ertrinken 45 afrikanische Flüchtlinge auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln im Atlantik. Weitere 44 Bootsinsassen können von anderen Schiffen gerettet werden.

8. März 2006

Für rund 75 afrikanische Flüchtlinge verläuft die Flucht nach Europa vergleichsweise glimpflich. Sie gerieten vor der Küste Westafrikas mit zwei Booten in Seenot und konnten gerettet werden.

14. März 2006

Die spanische Polizei greift auf den Kanarischen Inseln mehr als 300 afrikanische Flüchtlinge aus Mauretanien auf. Laut Zivilschutz handelt es sich um den bisher größten Flüchtlingszustrom an einem Tag.

15. März 2006

Bei einem Flüchtlingsdrama vor den Kanarischen Inseln ertrinken mindestens 24 Menschen. Ihre Leichen wurden von einem spanischen Hospitalschiff 110 Kilometer von der mauretanischen Küste entfernt geborgen, wie spanische Behörden am Mittwoch mitteilen. Von ihrem Boot fehlt jede Spur. Zuvor waren nach Polizeiangaben rund 400 afrikanische Flüchtlinge in neun überfüllten Booten auf dem Weg zu den Kanaren aufgegriffen worden - so viele wie noch nie zuvor an einem einzigen Tag.



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Viele der Tragödien im Atlantik sind nicht dokumentiert. Die Dunkelziffer der Toten ist hoch. Diese Chronologie kann daher nur eine Annäherung an die tatsächlichen Vorkommnisse sein. (kafe)