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Foto: APA/Artinger
Generalstreik gilt auch für Gewerkschafter als "letztes Mittel" der Interessendurchsetzung. Seit Proudhon geradezu mythisch: als "sanfte Revolution" für Tarifautonomie oder Frauenwahlrecht, gegen Putsch oder Nazi-Besatzung, zur Abwehr größter Gefahren für Demokratie, Freiheit und Lebensstandard. Wenn es um alles geht. Seit Mai 1968 auch für weniger.

Zuletzt war Belgien von zwei Generalstreiks lahm gelegt: Fabriken, Büros, Geschäfte, Schulen, der Nah-und Fernverkehr standen still - nur die Eisenbahnen brachten Streikende mit Sonderzügen zur Großdemonstration nach Brüssel. Welche Bedrohung war hier abzuwehren? Was erhitzt die Gemüter mehr als Krieg, Besatzung, Völkermord in früheren Kolonien, Terrorismus - oder der Benzinpreis? Richtig, das Recht auf bezahlten Vorruhestand im Erwerbsalter.

Europameister

Während die deutsche Regierung das seit 1916 unveränderte Pensionsalter 2012 bis 2035 von 65 auf 67 hinaufsetzt und die britische von derzeit 65/60 (seit 1925) auf 69 für 2050 andenken ließ, wollte Regierungschef Verhofstadt bloß notorische Frühpensionen erschweren (Mindestalter 60 statt 58). Doch die Belgier kämpfen mit uns um den Titel eines Europameisters für Frühpensionen: Pensionsalter 58,6 Jahre (Ö: 58,5/ 56,9). Arbeitslos sind zwischen 55 und 64 nur 0,7 % (Ö: 0,9) der Frauen und 1,2 bis 2,6 % der Männer, von denen aber 64 bzw. 61 % inaktiv sind. Bei den Frauen sind sogar 83 % (Ö: 81) im mittleren Alter inaktiv - übrigens weit mehr als in der nicht EU-reifen Türkei!

Schon vor der Pensionierung geburtenstarker Babyboom-Jahrgänge besteht ein Problem massenhafter Inaktivität: Erwerbslosigkeit ist viermal so hoch wie Arbeitslosigkeit, von 55 bis 64 sind 10-mal (Männer) bis 30-mal (Frauen) so viele der Personen "out of work" erwerbslos als arbeitslos, in Belgien 53- bis 118-mal.

Während wir Österreicher und Belgier also im besten "Post-prime-age"-Erwerbsalter - wegen angeblicher Massenarbeitslosigkeit und Masseninvalidität - überwiegend nichts tun (ohne Pfusch), arbeiten im selben mittleren Alter über 90 % der Isländer, 85% der Japaner, 80% der Schweizer, drei Viertel der Schweden und Norweger, 70% der Amerikaner, und über 2/3 aller Dänen, Iren, Briten, Spanier und Portugiesen. In Japan, den USA und Neuseeland arbeiten im Alter von 65 bis 69 mehr Menschen als bei uns von 55 bis 64.

Kollektives Harakiri

Aber Brüssel, diese kleine, verrückte Antiquitätenboutique darf nicht Tokio werden - oder Zürich, London, Kopenhagen. Generalstreiks sollen das Unhaltbare bis zum Untergang erhalten helfen. Kollektives Harakiri wie bei der grottenschlechten nationalen Fluglinie Sabena, bei der als letztem Akt vor der Pleite die Piloten für höhere Gagen streikten?

In Österreich wurde auch gestreikt, aber nur kurz und erfolglos. Die AUA, viel besser als die untergegangene Sabena, fliegt trotz Pilotenstreiks immer noch. Reguläre Frühpensionen wurden bei uns 2000 "überfallsartig" bis 2017 abgeschafft, dafür haben wir seither bis 44% aller vorzeitigen Alterspensionen für "Hackler" und eine Mehrheit der Anträge auf "Invalidität". In vielen Branchen sind im mittleren Alter solide Mehrheiten "berufsunfähig". Als "Schwerarbeiter" hätten sich laut Umfragen zusätzlich 1,2 Millionen Österreicher selbst gerne gesehen.

"Versorgungsklassen"

Das Leben ist also schwer und ungerecht, erst recht für Jahrzehnte arbeitslosen Einkommens, der Rente ohne Arbeit. Wie soll da Freude über immer längeres und gesünderes Leben aufkommen, wenn die Frührente für Normalbürger (91% vor 65) künftig kaum noch halb subventioniert wird? Von jener Minderheit, die arbeitet, um eine unhaltbare Bevölkerungsmehrheit an "Versorgungsklassen" (Karl Renner) durchzufüttern. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8.12.2005)