Als hätte man noch nie Gelegenheit gehabt, sich über das Wesen von Gewaltausbrüchen in saturierten, demokratischen und pluralistischen Gesellschaften zu informieren, faseln Politiker und Journalisten jetzt ständig von Integration. Dabei gibt es genügend Beispiele von schlecht oder gar nicht integrierten Bevölkerungsgruppen anderswo, die keineswegs Autos, Kindergärten, Grundschulen und Polizeistationen abfackeln.

Nein, jene französischen Jugendlichen, die gerade Gefallen daran finden, Brandsätze in städtische Linienbusse zu werfen, sind sehr wohl integriert – und zwar in dem Sinne, dass sie eine durchaus französische Facette des Sozialverhaltens verinnerlicht haben und zum Äußersten treiben, nämlich den "Je-m'en-foutisme" – einen radikalen und prinzipiellen Mangel an Gemeinsinn.

Zwar zählt die Brüderlichkeit bekanntlich zu den drei staatstragenden Hauptschlagwörtern seit der Revolution, aber das ist nur politische Rhetorik: salbungsvoll und abgehoben und – wie alles Politische in Frankreich – von niemandem ernst genommen. Überhaupt gehen die Franzosen davon aus, dass Politik bloß Lüge sei und der Staat nichts als die Pfründe der Politiker. Die Praxis gibt ihnen in dieser Einschätzung übrigens weit gehend recht.

Diese kalte Ignoranz gegenüber den Folgen des eigenen Handelns findet sich gleichermaßen bei jenen Streikenden, die hin und wieder mit ihren Lastwagen die Straßen blockieren und nicht einmal Krankenwagen durchlassen, wie bei denen, die das nächstbeste Auto anzünden und im Zweifelsfall das der am Existenzminimum lebenden Nachbarsfamilie erwischen

Es ist dieselbe Mentalität, die sich bei den Randalierern darin äußert, dass sie sogar die Feuerwehr angreifen, wie bei den Stadtplanern und Architekten darin, dass sie solche fürchterlichen Vorstadtsiedlungen gebaut haben. Überall derselbe Je-m'en-foutisme, dieselbe französische Verachtung für Kants kategorischen Imperativ und Hegels Staatsidealismus.

Auf diesem Boden gedeiht ein an Leere und Sinnlosigkeit kaum zu übertreffender Kult der Gewalt. Aber um Sinn und Inhalt geht es auch nicht. Die gegenwärtigen Exzesse in den Straßen sind von keiner politisch fassbaren Motivation geprägt. Deshalb gehen die Predigten über Sozialmisere und Integrationsmangel vollkommen fehl.

Eher lässt sich das Phänomen der nächtlichen Gewaltgeilheit aus dem Triebleben der Fußball-Hooligans herleiten. Die Studie von Bill Buford zu diesem Thema ist noch immer unübertroffen. Bei den Hooligans hat allerdings noch niemand etwas anderes als polizeiliche Repression vorgeschlagen. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2005)