"In stiller Nacht, zur ersten Wacht, ein Stimm begunnt zu klagen" (Brahms): Mit "Schutz vor der Zukunft" erweitert Christoph Marthaler den oft verdächtig jubilierenden Chor des Gedenkens um ein ernstes Lied der Totentrauer.

Foto: Dorothea Wimmer
Wien - Kurz vor Mitternacht der letzte Auftritt: Ein grauer Saaldiener verteilt Blechblasinstrumente. Neun Menschen mit Kindergesichtern nähern sich zögernd der Mitte des Saals. Der graue Herr confériert: "Unsere Kleinen haben ein Orchester gegründet und sich zum Abschied etwas ausgedacht, bevor sie."

Getragen, etwas unbeholfen und sehr zart intonieren sie Johannes Brahms' "In stiller Nacht": "Kein Vogelsang, noch Freudenklang/Man höret in den Lüften,/Die wilden Tier traurn auch mit mir/In Steinen und in Klüften."

Das Lied ist beendet, die neun ordnen sich links vor der Tür zu einer Reihe. Um die Instrumente abzugeben. Und um zu.

Wie erzählen, was nicht zu erzählen ist? Die Frage stellt sich - auch dem Theater. Vor wenigen Jahren erst erhielten Forscher Zugang zu den Akten, in welchen die Geschichte der "Heil- und Pflegeanstalt" Wien-Steinhof und der auf ihrem Gelände eingerichteten "Jugendfürsorgeanstalt" Am Spiegelgrund, sowie der "Städtischen Arbeitsanstalt Steinhof" für "asoziale" Mädchen und Frauen während des Nationalsozialismus dokumentiert wurde. Nach und nach enthüllen sie die Einzelheiten über mehrere Tausend Menschen, Erwachsene und Kinder, die in Steinhof getötet wurden. Durch systematisches Aushungern, durch medizinische Experimente, durch Gift.

Gemeinsam mit seiner Dramaturgin Stefanie Carp und dem Pianisten Markus Hinterhäuser entschied sich der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, im Jugendstiltheater der Anstalt, die noch heute als psychiatrisches Krankenhaus genutzt wird, einen Abend zu der Vergangenheit des Ortes zusammenzustellen. Schutz vor der Zukunft, der Zynismus im Titel erinnert an jenen des Begriffes "Euthanasie": "schöner Tod".

Die drei - mit einer Rauminstallation eigentlich vier - Teile des dreieinhalbstündigen Abends lassen sich lesen als behutsame Versuche, sich der Unfassbarkeit der Ereignisse anzunähern mit den Mitteln des Theaters, der Musik - und der bildenden Kunst.

Besucher, die etwa eine Stunde vor Beginn der Vorstellung auf dem Gelände anlangen, haben Gelegenheit, in Pavillon 18, dort, wo einst die "schwererziehbaren Jugendlichen" untergebracht waren, eine auf den ersten Blick unspektakuläre Rauminstallation aufzusuchen: In den Raumfluchten im ersten Stock verweisen kopierte Zeitungsartikel, Lehrbücher der Rassenhygiene und Holzspielzeug, von Patienten hergestellt, auf die Vergangenheit.

Vor allem aber sind es die tristen Details des realen Alltags, auf die der Blick gelenkt wird. Leere Betten, an der Wand eines Raums Zahlenreihen, die ein anonymer Schreiber - Patient oder Arzt? - mit Bleistift auf den Verputz kritzelte. Hunderte toter Fliegen zwischen den Fenstern. Ein aktuelles Plakat über den Einsatz von Psychopharmaka.

Vorstellungsbeginn. Das Publikum sitzt an langen Tafeln in der Saalmitte. Vorn, an der rot-weiß-rot dekorierten Tribüne, allerlei Festredner. Hymnen über die Erfolge der Tourismusindustrie wechseln in den Textcollagen zu Erwägungen hinsichtlich des "sozial verträglichen Frühablebens" einer zunehmend kostenintensiven Rentnergesellschaft zur Vermeidung von "Ballast-Existenzen", so das offizielle deutsche Unwort des Jahres 1998. Kannibalenwitze, Passagen aus Mein Kampf.


Wundersame Zartheit

Dazwischen: die wundersam zarten Auftritte der Marthaler-Menschen. Jürg Kienberger, Ueli Jäggi, die Sängerin Rosemary Hardy, Bettina Stucky, Katja Kolm, Bernhard Landau, Josef Ostendorf, Nicolas Rosat, Clemens Sienknecht, Jeroen Willems und Markus Hinterhäuser: Stoisch bewegen sie sich durch den Saal, finden einander im Gesang, etwa in Robert Schumanns Wehmut zu Texten von Josef Eichendorff: "Ich kann wohl manchmal singen/ Als ob ich fröhlich sei/Doch heimlich Tränen dringen/Da wird das Herz mir frei."

Das Bedrückendste dieses bedrückenden Abends ist wohl die erzwungene Veränderung des Blicks. Ruht der Marthaler-Blick stets voll Liebe auf den Unvollkommenen, Nicht-"Funktionierenden" und gibt ihnen durch diese Liebe ihre Würde wieder - so mengt sich seinem Sehen hier ein anderes bei - jenes, dem das Anderssein zum Todesurteil gereicht, in einer Gesellschaft, die ihre zwanghafte Anpassung an eine strikte Norm, ihre "Normalität" mit Gesundheit verwechselt.

Das Publikum bewegt sich. Alle Räume des Theaters werden nun bespielt, Namen getöteter Kinder verlesen. Schließlich: Guckkastenbühne. Einzelschicksale, Opfer, Täter. Des Orchesters letzter Auftritt.

"Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt!/Heil sei dem Freudenlicht der Welt!" (DER STANDARD, Printausgabe, 11.05.2005)