Foto: Monika Rittershaus

Wien – Man sieht: eine gute Stube mit Blümchentapete und reichlich Gefälle. Der Vater: ein Macher, wirtschafts- und weiberaffin, selbstbewusst und selbstgefällig. Der Onkel, von der frühen Bevorzugung des Bruders gekränkt, geht über Leichen, wenn dies der Weg ist, der zur Macht führt. Die Mutter krallt sich alles, was sie psychisch und physisch befriedigt, oft auch den Sohn. Und der? Grübelt gern und wird vom Papa als "passiv" und "narzisstisch" beschrieben und vom Pastor als "Wohlstandsleiche".

Willkommen also bei Königs in Dänemark. Der Vater ist ja eigentlich schon tot, die dauergeile Mama fast mit dem bösen Onkel verheiratet, und der Sohnemann ist der populärste Seinsskeptiker der Theatergeschichte. Zum Jubeljahr 2016 hat Intendant Roland Geyer bei Anno Schreier (Musik) und Thomas Jonigk eine Shakespeare-Oper in Auftrag gegeben, Hamlet, und der deutsche Dichter hat die Herrscherdynastie als ganz normalen dysfunktionalen Familienverband in die Gegenwart geholt.

Verführerischer Tragödientanker

In diesem wird so geredet (bzw. gesungen) wie man es heute tut, die pathosprallen Worte Shakespeares hat Jonigk dem kommentierenden Chor übertragen. Der Pastor, die einzige hinzugefügte Figur, fungiert als Buffo-Element und schleppt den Tragödientanker immer wieder in seichte Komödiensee. Eine komödiantische Schlagseite hat auch die Figur von Hamlets Vater: Der tote König ist die einzige Sprechrolle dieser Oper und kommentiert die ganze Malaise spitzzüngig.

Gegenwart und Vergangenheit, Tragödie und Komödie plus musikfreie Splitter selbstironischen Sprechtheaters: Bekommt die Musik das denn alles unter einen Hut? Webt sie ein verbindendes, spannendes Band um die heterogenen Teile? Das tut sie. Anno Schreier hat das theatralische Gespür eines Richard Strauss, die Musik des Mittdreißigers ist von einer enormen Suggestivkraft, einer verführerischen Sinnlichkeit und fantastischen Vielfalt.

Nach einem Urknall des Schreckens bleibt erst ein feiner Nebelschleier der Streicher zurück. Schnell entwickelt sich reges dramatisches Geschehen, schlängeln sich Wellen der Erregung durch die Stimmen und führen zu grellen Entladungen. Scheint die Komödiensonne, quäkt und gackert es im Orchestergraben, dekonstruiert Schreier lustvoll Volksmusikalisches.

Präzise und begeisternd

Ausstatter Johannes Leiacker entschädigt mit einem dreistufigen Kostümfeuerwerk des Chors leidlich für die Kargheit der Bühne; Christof Loy konzentriert sich, wenn er nicht auf Ernst Lubitschs Streifen Sein oder Nichtsein (1942) anspielt, auf eine präzise Umsetzung von Jonigks komplexer Personenzeichnung: Marlis Petersen ist eine souverän lüsterne Gertrud, Bo Skovhus ein intensiver Claudius, Kurt Streit windet und verbiegt sich als Pastor nach Leibeskräften, und Jochen Kowalski ist ein rührender Gentlemangeist.

Andrè Schuen ringt als Hamlet auf bildschöne Weise mit den dunklen Mächten seines Gemüts; seltsam, dass Schreier für die Partie dieses zaudernden Bübchens die Baritonlage gewählt hat. Darstellerisches Juwel der Produktion ist Theresa Kronthalers Ophelia, fast schon büchnerhaft realistisch skizziert: nichts ist schablonenhaft in ihrem Agieren, das muss man gesehen haben. Gesungen wird solistisch erstklassig, der Arnold Schönberg Chor könnte sich in der ersten Opernhälfte noch steigern und Michael Boder koordiniert das tolle ORF RSO Wien mit kundiger Hand. Enthusiastische Premierenbegeisterung für alle. Empfehlung! (Stefan Ender, 15.9.2016)