Thomas Jonigk im Spiegel, neben ihm der Komponist Anno Schreier, über die gemeinsame Oper "Hamlet": "Für mich liegt der Grund, warum die Menschen singen, darin, dass sie in emotionalen Extremzuständen sind."

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Was würden Sie jemandem antworten, der behauptet, im 21. Jahrhundert einen "Hamlet" auf die Opernbühne zu hieven sei kühn?

Schreier: Na ja, alles, was wir machen, ist kühn. Schon eine Oper zu schreiben ist ja nichts Naheliegendes. Es kann schon sein, dass man gerade einen Hamlet als kühn empfindet, aber das ist nicht gegen unsere Absicht.

Jonigk: Es war Hamlet auch unsere Wahl. Wir hatten nur den Auftrag, ein Stück zu machen, das mit Shakespeare zu tun hat. Es war naheliegend, einen Stoff zu nehmen, der wegen seiner Rätselhaftigkeit und philosophischen Dichte einen Anlass bietet, daraus eine eigene Version zu machen.Viele Stücke sind relativ leicht deutbar. Hamlet ist aber ein Text, der bis zu einem gewissen Grad gar nicht zu verstehen ist. Das ist eine gute Vorlage. Mich hat sie deswegen angesprochen, weil die Themen des Stücks – etwa das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe – sich gut ins Heute transportieren lassen, ohne dass man sie platt aktualisieren müsste.

STANDARD: Was wollen Sie in der Vorlage besonders hervorkehren?

Schreier: Was wir besonders zeigen möchten, ist das Verhältnis in einer Familie, die nicht mehr funktioniert, deren Mitglieder in der Vergangenheit schon so viele Missverständnisse und Enttäuschungen erlebt haben, dass sie nicht mehr miteinander umgehen können, sozusagen emotional nicht mehr funktionieren.

Jonigk: Wir haben nicht einfach eine Bearbeitung des Stücks von Shakespeare gemacht, sondern eine Reihe von Materialien herangezogen, um unsere subjektive Sicht auf den Stoff zu entwickeln. Es ging nicht darum, eine allgemeingültige Version zu schaffen, sondern etwas, das unserer Ansicht nach in unserer Zeit greift.

STANDARD: Sie greifen dabei allerdings zu einem geradezu antiken Mittel: Dem Chor kommt wie in der griechischen Tragödie eine Schlüsselfunktion zu. Warum?

Jonigk: Das war für mich ein wichtiger Zugang, eine Funktion für den Chor gefunden zu haben. Eine Schwierigkeit für mich war, aus den Figuren heraus, die in meiner Arbeit entstanden sind, an die Sprache Shakespeares anzudocken. Deshalb habe ich Moral, Pathos und sprachliche Höhe gleichsam nach außen verlagert und dem Chor in den Mund gelegt.

STANDARD: Wie gehen Sie kompositorisch mit dieser eigenen Schicht um?

Schreier: Es ist nicht so, dass beim Chor, nur weil er eine alte Sprache verwendet, einfach alte Musik zitiert wird. Das fände ich ein bisschen albern und platt. Der Chor vermittelt in diesem Kammerspiel, das eigentlich ziemlich realistisch ist, sprachlich und dramaturgisch eine ganz andere Sphäre. Durch diese Blöcke entsteht eine Art Kontrapunkt. Musikalisch gibt es manchmal großes Pathos, später werden dann Madrigale wie bei Monteverdi als Inseln der Reflexion eingefügt.

STANDARD: Eine Frage, die die Oper schon immer begleitet hat und in der Moderne wieder virulent wurde, ist die, warum überhaupt gesungen wird.

Schreier: Diese Frage wird schon bei Monteverdi ununterbrochen thematisiert, beginnend mit Orfeo, der ja selbst Sänger ist. Für mich liegt der Grund, warum die Menschen singen, darin, dass sie in emotionalen Extremzuständen sind.

Jonigk: Für mich als Librettisten ist die Oper eine Riesenchance, weil ich glaube, dass man ein Phänomen wie Hamlet allein mit Worten nicht ergründen kann. Dass gesungen und Musik gespielt wird, bringt andere Ebenen zum Schwingen, die man unbewusst nennen kann. Im Gesamtkunstwerk erscheint es mir eher möglich, einen Zugang zu diesem Stoff zu finden, als wenn man nur den Text hätte. Ich persönlich habe Hamlet als Theaterstück immer unbefriedigend gefunden – obwohl ich eigentlich gerne ins Theater gehe, hat es für mich nie wirklich ganz funktioniert. In den Zwischenräumen zwischen Sprechen, Singen und dem komponierten Schweigen geschieht da sehr viel.

STANDARD: Zwischen Komponist und Librettist gab es in der Musikgeschichte häufig ein deutliches Gefälle hinsichtlich der Rangordnung. Wie ist das bei Ihnen? Gibt es eine Hierarchie oder eine Arbeit auf Augenhöhe?

Schreier: Das ist wirklich sehr schwer zu beantworten. Es ist immer eine Herausforderung, sich auf einen Text einzulassen. Für mich waren die Emotionalität und die direkte Sprache des Textes ein Weg in das Projekt. Während der Arbeit haben wir uns häufig getroffen und Änderungen gemacht. Manchmal hat die Musik dann eine Richtung eingeschlagen, die schließlich Änderungen im Text erforderlich gemacht hat. Die Szenen des Höhepunkts im ersten Teil der Oper habe ich miteinander verschnitten wie im Film, sodass sie quasi gleichzeitig ablaufen. Das war ein großer dramaturgischer Eingriff, aber der Text ist dennoch erhalten geblieben. Mir war wichtig, dass es ein Wechselspiel zwischen uns beiden ist – und dass ich behutsam mit dem Text umgehe.

Jonigk: Für mich ist es wichtig, mit dem Komponisten die Grundausrichtung zu bestimmen, bevor ich mit meiner Arbeit beginne – damit ich weiß, in welche Richtung die Fantasie gehen kann. Ich würde aber schon sagen, dass sich der Text der Komposition unterordnet. Das muss auch so sein. Ich fände es ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein Librettist auf jedem Wort besteht.

Schreier: Ich hätte aber keine Änderungen machen wollen, ohne miteinander gesprochen zu haben.

Jonigk: Aber du hättest es natürlich theoretisch tun können.

Schreier: Das sagst du jetzt so! (lacht)

Jonigk: Es gibt schon auch Librettisten, die jede Änderung ihres Textes kategorisch ablehnen. Das fände ich persönlich indiskutabel. So kann man eigentlich nicht arbeiten. (Daniel Ender, 14.9.2016)