Nach dem Hass ist vor dem Hass: Sutivan.

Foto: privat

Essbesteck des Hasses.

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Serbische Einheiten halten im Sommer 1992 einen Staudamm im Hinterland der kroatischen Küstenstadt Split besetzt und drohen mit der Sprengung. Die ganze Insel Brač bleibt monatelang ohne Strom, und das Fischerdorf Sutivan ist in die 60er-Jahre zurückgeworfen.

Kein Radio, keine Betonmischmaschine, kein Mixer stört die windlose Stille der Mittagshitze, bis der Mistral einsetzt, der Sutivan abkühlt. Es ist genauso wie in meiner Kindheit, als mein Großvater und mein Vater im Schatten der großen Pinie unser Haus bauen, ohne elektrische Energie zu benutzen.

Das Schweigen der Hühner

Weil der Begriff "Kühlkette" jetzt auf sein Abstraktum reduziert ist, sind die Legehühner aus Dominkos Farm die einzige zuverlässige Quelle von frischem Fleisch in Sutivan. Ich muss nur den Hügel der Heiligen Jungfrau von der Stomorica hinaufschwitzen, weil dort, hoch über Sutivan, Dominkos Farm ist. Ich gebe ihm Geld, er schlägt einem Huhn den Kopf ab und stopft den Körper in einen Plastiksack. Erst als ich fast am Fuß des Hügels anlange, zuckt das kopflose Huhn nicht mehr.

Oft begegne ich auf diesem Kalvarienweg der Hühner anderen Bewohnern von Sutivan auf ihrem Weg von oder zu Dominko. Mit manchen trinke ich in diesen Pausen eine Mischung aus Wasser und Wein, was man hier "bevanda" nennt. Mit anderen rauche ich einen Joint. Beide Rauschmittel helfen durch den Tag. Und durch den Krieg.

Eines Morgens sind alle Hühner auf Dominkos Farm tot. Lukrecija, die Witwe von Lamut, dem Fischer, der kurz vor dem Krieg beim Fischen betrunken aus seiner Gajeta fällt und ertrinkt, weiß, was Dominkos Hühnern zugestoßen ist. Letzte Nacht – so erzählt es Lukrecija auf dem kleinen Gemüsemarkt neben dem Gemeindeamt den anderen Witwen und Noch-Ehefrauen von Sutivan – plagt sie ein Albtraum, weswegen sie auf die Terrasse geht. Es ist der Albtraum, in dem der Fischer Lamut plötzlich zur Türe hereinkommt, triefend nass, voller Algen und noch immer besoffen und noch immer tot.

Gerade als Lukrecija den Traum abschüttelt, fegt ein Düsenjäger im Tiefflug über ihren Kopf hinweg und rast in Richtung des Hügels der Heiligen Jungfrau von der Stomorica. Die Witwe Lukrecija schwört, dass das Flugzeug einen Kanister genau über Dominkos Hühnerfarm abwirft. "Es ist eindeutig Giftgas!", sagt sie am Ende ihrer Erzählung und wiederholt an diesem Tag ihre Expertise über den plötzlichen Hühnertod noch viele Male. "Diese verdammten Serben!", sagt die Witwe Lukrecija ebenso oft und holt dann, voller Erschütterung und Verachtung für die Serben, tief Luft.

Später, nachdem der Amtstierarzt seine Untersuchung durchführt, wird bekannt, dass Dominkos Hühner an Hitzeschlag krepiert sind. Es wird auch bekannt, dass Dominko zu diesem Zeitpunkt bereits den dritten Tag in Folge betrunken ist, sodass niemand die elektrisch betriebenen Lüftungsklappen manuell öffnet. In Sutivan wächst trotzdem der Hass auf die Serben, weil sie ja nicht nur den Strom zurückhalten, Giftgas auf das Dorf werfen, sondern sogar Hühner ermorden.

Patrio-Genetik

Es gibt so etwas wie eine eigene Genetik der Nationalisten. Das lerne ich auf der Polizeistation von Supetar auf der Insel Brač. Am Nachmittag drischt mir im Café Palute ein Soldat eine "Verkehrte" quer über den Mund. Heute versuche ich mit geschwollenen Lippen eine Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten.

Doch erst will der Polizist die "nationale Zugehörigkeit" meiner Eltern wissen. "Mutter Kroatin" sage ich, weil ich die gute Nachricht zuerst bringen will, "Vater Serbe." Das sage ich laut und selbstbewusst, während ich demonstrativ meinen österreichischen Reisepass vor das Gesicht des Polizisten halte. Doch er hört auf, das Formular zu beschriften, drückt meinen Reisepass aus seinem Gesichtsfeld und sieht mich an wie ein Onkel, der seinem dummen Neffen kurz mal die Welt erklärt. "Mein lieber Freund" – der Polizist duzt mich plötzlich und sieht gar nicht wie ein Freund aus – "nur 40 Kilometer von hier schießen unsere Soldaten den Serben ins Gesicht, und du kommst mir mit einer geschwollenen Lippe? Bist du sicher, dass dich nicht eine Wespe gestochen hat?"

"Ich glaube, es war sogar eine Hornisse ...", sage ich leise. Und gehe in die Apotheke, die gleich gegenüber der Polizeistation ist. Hier kaufe ich Aspirin und im Supermarkt im Hafen eine Handvoll dicker Strohhalme. Damit schlürfe ich die nächsten drei Tage diverse Suppen, bis meine Lippen abschwellen.

Ich kaufe auch einen robusten Fliegenpracker. Ich erschlage jede Hornisse, jede Wespe und jede Biene, die meinen Weg kreuzt. Dass der Hass auch mich infiziert, merke ich, als ich beginne, meine Feinde lauthals in Kategorien einzuteilen: "Stirb, du Klerikalfaschist! Krepier, du Antisemit! Verrecke, du Rassistenschwein!"

Romantik in Zeiten des Hasses

Eva ist neunzehn. Sie ist Ballerina. Nicht eine der ukrainischen "Ballerinen", die in diesem Sommer in der Disco von Sutivan tanzen und die von Uno-Soldaten, Militärpolizisten und Lkw-Fahrern diverser Hilfsorganisationen für hundert D-Mark für einen privaten "Tanz" in ihrem Zimmer gemietet werden.

Eva ist eine echte Ballerina aus Zagreb, die in echten Theatern echtes Ballett tanzt und die nicht gemietet werden kann, sondern engagiert wird. Und sie tanzt in diesem Sommer nur für mich. Nackt. Auf den Felsen in der Bucht von Livka, wenn die Sonne untergeht und der Sand auf dem Grund grün leuchtet. Unter den riesigen alten Pinien auf dem Hügel des Heiligen Vinzenz von Ferrara. Auf meiner Terrasse, morgens, wenn der Sonnenaufgang nur eine rosenfingerige Ankündigung ist.

Wie es beginnt, weiß ich heute nicht mehr – am Strand oder in der Marina Bar im Hafen vielleicht. Eva ist jung, und mitten in ihrer Jugend tobt ein Krieg, mit dem sie nichts zu tun haben will, sie will einfach nur jung sein. Ich bin damals stark. Meine langen, schwarzen Haare haben im Sonnenschein einen roten Stich, und die Haut über meinen Muskeln ist aus Bronze. Ich habe keine Angst, keine Zweifel und bin vorläufig unsterblich. Ich bin ein Mann, der allein in seinem einsamen Haus pathetisch dem Krieg und dem Hass trotzt. Wir sind auf einer Insel. Es ist das Rezept für ein Drehbuch von David Hamilton, in dem ein junges Mädchen in Zeiten des Krieges auf einer Insel ein romantisches Abenteuer mit einem Mann eingeht.

Wir genießen unser Abenteuer hemmungslos, als ob es nur ein Film wäre, der auf einer unbewohnten Insel spielt. Sutivan, seine Bewohner, die betrunkenen Militärpolizisten und Lkw-Fahrer, die Blauhelme und ihrer aller Krieg sind für uns unsichtbar, unwichtig, nur Schatten. Wir ignorieren die Gehässigkeiten, die uns Patrioten abends in der Bar zuwerfen. Weil Eva "Kroatin" ist und ich "Serbe" bin. Für die Meute der Neidischen und der Hassenden und eindeutig Notgeilen ist unsere Hamilton-Romanze ein italienischer Porno von Mario Salieri. So einer, wie man ihn in der Videothek von Pere in Supetar ausleihen kann. Wenn sie schon ein Schlämpchen sei, dann solle die junge Schönheit ihre Schenkel nur für kroatische Helden spreizen.

Wie es endet, weiß ich noch. Eines Abends sagt Eva, sie würde nun zum letzten Mal für mich tanzen. Und wir würden diese Nacht zum letzten Mal in Lust und Schweiß einschlafen. So will sie es: kein Abschied, keine Küsse, keine Zettel mit Adresse und Telefonnummer. Ich nicke nur und sage: "Ja, ich weiß ..."

Am Morgen ist mein Bett leer. Eva ist nur ein Abdruck im Laken neben mir, nur ein Traum im Sommer.

Nach dem Hass ist vor dem Hass

Auch in Sutivan kommt alles, wie es kommen muss und wie es immer kommt: Der Krieg geht, der Hass auf die Serben geht mit ihm. Und dann kommen die Ungarn.

"Lauter Verbrecher", sagt die Witwe Lukrecija: "Wer sonst zahlt Grundstücke in Bargeld aus einem Koffer." Wie üblich holt sie anschließend entrüstet und voller Verachtung für die Ungarn tief Luft. Und es ist wahr: Kurz nach dem Krieg tauchen ungarische "Geschäftsleute" in Sutivan auf und kaufen Bauland mit Bargeld, dass sie in Koffern dabeihaben. Auf dem alten Ziegenweg, der zum Hügel des Heiligen Vinzenz von Ferrara und seiner Kapelle führt, wachsen jetzt links und rechts Appartementhäuser.

Aber die wahre Sünde und der Ursprung der Hasstiraden der Witwe Lukrecija sind nicht die Zahlungsmodalitäten. Die Witwe selbst verkauft ein veritables Stück Bauland an einen der "Verbrecher", weil sie von der Rente ihres ertrunkenen Lamut nicht leben kann. Das Bargeld aus dem ungarischen Koffer packt sie nach alter Sitte in ein Kuvert, und das Kuvert hängt sie mit einem dünnen Faden hinter den Schrank im Schlafzimmer. So versteckt hier jeder Geld, für das er keine Steuern zahlen will.

Die Ungarn, die hier rege kaufen und bauen, bringen ihre eigene Verpflegung mit, eigene Bauarbeiter und eigenes Baumaterial. Nicht einmal Zlatko, der Elektriker, den alle rufen, wenn was mit dem Strom nicht in Ordnung ist, bekommt einen Auftrag der neuen Bauherren. Und als die hässlichen Schlafburgen fertig sind, werden sie flugs an andere Ungarn in Ungarn verkauft. So entsteht am Südhang des Hügels des Heiligen Vinzenz von Ferrara, wo einst Eva für mich tanzte, "Little Ketschkemet".

Die Witwe Lukrecija kann sich nicht beruhigen und erinnert ihre Kolleginnen an vergangene Zeiten: "Die Serben haben wenigstens im Supermarkt eingekauft!" Alle nicken. "Die Serben waren wenigstens abends Eis essen!" Alle nicken wieder. "Die Serben", sagt die Witwe Lukrecija schließlich, "hat man beim Reden wenigstens verstanden!" Dann plaudert jede der Frauen von Sutivan über den einen oder anderen netten Serben, der früher mal Olivenöl oder Fisch oder Feigen kaufte, auf Serbisch plauderte und ein wenig von seinem Geld am Markt ließ. Am Ende sind sich die Frauen einig, dass die Serben jederzeit zurückkommen können, wenn dafür nur die Ungarn verschwinden.

Auch der hinzugekommene Briefträger Jere nickt. Ihn plagen die ungarischen Nachnamen, die er nicht aussprechen und sich nicht merken kann.

Ich begegne Eva nie wieder.

ENDE

(Bogumil Balkansky, 9.9.2016)