"Wenn wir Waffen produzieren und verkaufen, dann werden wir Krieg und Menschenrechtsverletzungen ernten. Deshalb flüchten die Menschen nach Europa", sagt die tunesische Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine.

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STANDARD: Sie haben im letzten Jahr gemeinsam mit dem tunesischen "Quartett für den nationalen Dialog" den Friedensnobelpreis erhalten. Wie hat diese Auszeichnung Ihre Arbeit beeinflusst?

Sihem Bensedrine: Dieser Preis ist für uns eine Anerkennung für alle Tunesier und Tunesierinnen. Es ist eine Anerkennung, dass wir den Diktator gestürzt haben, eine Anerkennung unserer Anstrengungen für den Versuch, ein demokratisches System aufzubauen. Für uns ist es großartig, wenn die Welt und die internationale Gemeinschaft durch diese Auszeichnung auf uns schauen, denn wir sind dabei, etwas sehr Spannendes zu erreichen: Wir bauen die Demokratie von unten.

STANDARD: Sie sind Präsidentin der tunesischen Wahrheitskommission. Sie beschreiben die Arbeit der Wahrheitskommission als letzten Schutzwall gegen die Wiederherstellung des alten Regimes. Wie sieht Ihre konkrete Arbeit aus?

Bensedrine: Die Wahrheitskommission wurde als unabhängige Institution eingerichtet, um die Zeit der Übergangsjustiz, die Übergangsphase zu einem demokratischen Rechtsstaat zu begleiten. Unser Auftrag besteht nicht nur darin, das alte despotische System zu demontieren, sondern auch darin, die während des Despotismus begangenen Verbrechen zu untersuchen, die Opfer der Diktatur zu rehabilitieren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es geht auch darum, die Gräueltaten aufzudecken, die von Beamten im Namen des Staates begangen wurden. Unsere Aufgabe ist es, die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Wir engagieren uns für eine Aussöhnung der Bevölkerung mit dem Staat – einem Staat, der die Menschen nicht schützte, sondern ihre Rechte und Freiheiten mit Füßen trat.

Das Problem ist, dass unser Auftrag sehr umfassend ist und dass wir uns vielen staatlichen Widerständen gegenübersehen. Der tunesische Staat ist natürlich nicht glücklich über unsere Aufklärungsarbeit – das ist normal. Wir sind aber davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, diese Übergangsjustiz gut umzusetzen, Aussöhnung zu erreichen – und das, ohne die Menschen vor Gericht zu stellen. Wir möchten eine neue Seite in unserer Geschichte aufschlagen. Eine Seite, wo wir zusammenarbeiten können und wo wir alle das Gesetz respektieren. Wo der Staat die Rechte der Bürger und Bürgerinnen respektiert und Menschenrechte schützt – anders als während der Diktatur, als Verbrechen im Namen des Staates oder unter seinem Schutz begangen wurden.

Derzeit sind bereits mehr als 30 000 Klagen bei uns eingegangen, bei denen es um Verletzungen der Menschenrechte geht und die während der 60 Jahre der Diktatur geschehen sind. 90% davon sind schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, der Rest fällt in den Bereich der Korruption. Die Menschen, die derart gravierende Verletzungen ihrer Würde und ihrer Rechte erfahren haben, beteiligen sich nun am Aufbau eines alternativen Systems, einer Demokratie. Diese Menschen sind sich sicher, dass die Verfassung unser geltendes Recht und unsere gemeinsamen Grundsätze definieren soll. Wichtig ist, dass wir alle Leute zusammenbringen und dass alle die gleichen Rechte und Pflichten haben – das ist die Herausforderung, der sich der tunesische Staat stellen muss.

STANDARD: Als Journalistin und Menschenrechtsaktivistin während der Amtszeit Ben Alis waren Sie massiven Bedrohungen ausgesetzt und auch mehrere Male im Gefängnis. Wie ist die derzeitige Stimmung?

Bensedrine: Wir haben ganz viel Hoffnung, dass wir fähig sind, nicht nur auf demokratische Gesetze zu vertrauen, sondern diese auch in einem partizipatorischen Prozess zu vollziehen. Der Staat hatte lange Zeit das Meinungs- und Machtmonopol. Jetzt muss die Macht auf die gesamte Bevölkerung aufgeteilt werden. Aber diese Grundrechte sind noch nicht implementiert. Wir sind am Weg, aber wir sehen uns mit sehr vielen Widerständen konfrontiert, hauptsächlich von Wirtschaftsseite, aber auch was unsere Sicherheit anbelangt. All diese Probleme haben einen Einfluss auf die Umsetzung unserer Ziele. Es ist alles andere als leicht, aber wir bewegen uns vorwärts. Wir sind auf dem Weg zu einem demokratischen Staat, aber der Übergang zur Demokratie ist kein Spaziergang.

STANDARD: Noch immer ist ein großer Teil der tunesischen Medienlandschaft in der Hand derer, die auch während der Diktatur das Sagen hatten. Wie steht es seit 2011 um die Meinungsfreiheit?

Bensedrine: Ja, es ist genauso wie Sie sagen, noch immer sind die Medien in den Händen der gleichen Leute. Und auch im öffentlichen Sektor gibt es unzählige Leute, die die Veränderung nicht akzeptieren und rückwärtsgerichtet sind. Bei den offiziellen Medien haben wir bisher leider total versagt. Unsere einzige Alternative sind die sozialen Medien. Hier haben wir viele junge Leute, die versuchen, diese personellen Kontinuitäten und den Machtmissbrauch öffentlich zu machen.

STANDARD: Soziale Medien haben auch im Arabischen Frühling eine große Rolle gespielt.

Bensedrine: Ja, durch soziale Medien haben wir viel bewirken können. Die tunesische Bevölkerung vertraut den offiziellen Medienkanälen schon längst nicht mehr.

STANDARD: Seit vielen Jahren sind Sie in der tunesischen Frauenbewegung engagiert. Was sind derzeit die größten Herausforderungen für Frauen in Tunesien?

Bensedrine: Lassen Sie mich über die Situation der Frauen in der Übergangsjustiz sprechen, das ist meine derzeitige Arbeit. Es ist eine große Herausforderung, weil es nur ganz wenige Frauen gibt, die ihre Fälle in die Wahrheitskommission einbringen. Nur 17 Prozent der bei uns erfassten Fälle von Menschenrechtsverletzungen kommen von Frauen, aber das bildet nicht die Realität ab. Wir wissen, dass unzählige Frauen sexuell belästigt wurden und Vergewaltigungen ausgesetzt waren. Polizeiliche Vergewaltigung wurde als Waffe gegen Regimekritikerinnen eingesetzt. Weil sexuelle Gewalt nach wie vor ein Stigma ist, trauen sich die Frauen nicht, diese Vorfälle bekanntzumachen. Sie sprechen nicht über diese Dinge, auch wenn es vor 15 oder 20 Jahren passiert ist. Es ist herausfordernd für uns, diese Fälle in die Wahrheitskommission einzubringen. Um es diesen Frauen zu erleichtern, über ihre Erlebnisse zu sprechen, sind wir dazu übergegangen, sie in ihren Häusern aufzusuchen und ihre Zeugnisse zu anonymisieren. Derzeit versuchen wir, diese zu sammeln und auch hier die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

STANDARD: Derzeit werden wieder Zäune um die Festung Europa gebaut. Wenn Sie auf die Situation der nach Europa Geflüchteten schauen, wie ist es um die Menschenrechte in Europa bestellt?

Bensedrine: Ich weiß, dass es für die europäischen Staaten alles andere als leicht ist angesichts der vielen tausenden Geflüchteten. Das ist eine sehr herausfordernde Situation. Aber: Ich möchte auch an die europäischen Werte und das Recht auf Asyl erinnern, das doch Teil der geltenden europäischen Gesetze ist. Die Probleme, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sind auch mit der Politik europäischer Länder verbunden. Zum einen sind wir miteinander durch die Kolonialgeschichte verknüpft. Zum anderen werden in afrikanischen Ländern viele Probleme mit Waffengewalt statt in Dialogform gelöst. Aber wer verkauft diese Waffen? Welche Länder produzieren Waffen? Wenn wir diejenigen ermitteln, die hinter den Waffengeschäften stehen, können wir auch benennen, wer am Beginn der Konflikte steht. Wenn wir Waffen produzieren und verkaufen, dann werden wir Krieg und Menschenrechtsverletzungen ernten. Deshalb flüchten die Menschen nach Europa.

STANDARD: Sie eröffnen am Donnerstag das Menschenrechtsfilmfestival Fragments in Graz. Von 2004 bis 2011 fanden Sie Zuflucht in dieser Stadt. Was verbinden Sie mit diesem Ort?

Bensedrine: Ich bin sehr bewegt, wieder nach Graz zurückzukehren. Graz war für mich ein Zufluchtsort, an dem ich herzlich aufgenommen wurde. In meiner Erinnerung ist es ein wunderschöner Ort, an dem man sich erholen kann, wenn man bedroht war und sich wieder stärken muss. Nach so langer Zeit nach Graz zurückzukehren, berührt mich sehr. Ich bin sehr glücklich und fühle mich geehrt, dass ich dieses Filmfestival eröffnen darf. Ein Menschenrechtsfilmfestival ist der beste Weg, um Erinnerungen zu bewahren und zu teilen, um das Vergessen zu verhindern. Denn Erinnerung ist auch ein Weg, um die Vergangenheit zu bewältigen und damit ein Fenster für die Zukunft zu öffnen. (Christine Tragler, 21.4.2016)