The Front Balcony: Dieses Foto gehört zu einer Werkserie von Nilbar Güres, die 2010 im Istanbuler Bezirk Çirçir, in dem die Künstlerin einen Teil ihrer Kindheit verbrachte, entstanden ist. Es zeigt eine verschworen-surreale Szenerie weiblicher Befreiung und Solidarität. Die ältere Frau mit Kopftuch beobachtet die zwei jungen Frauen bei ihrem Tun draußen auf dem Balkon wie eine wohlwollende Komplizin.

Foto: Courtesy the Artist; Galerie Martin Janda, Wien; Rampa, Istanbul; Sammlung Lentos Kunstmuseum Linz

Ihr Markenzeichen sind die gelben, fluoreszierenden Westen. Die jungen Männer und Frauen der Tahrir-Bodyguards treten immer bei großen Anlässen wie religiösen Festen auf den Plan, wenn es gilt, Frauen auf belebten, öffentlichen Plätzen vor Übergriffen und sexueller Belästigung zu schützen.

Mehrere solche Organisationen der Zivilgesellschaft haben in den letzten Jahren auf die epidemische sexuelle Belästigung in Ägypten mit eigenen Programmen reagiert. Sie versuchen eine Lücke zu schließen, die Politik und Polizei gelassen haben. An einigen Metro-Stationen hängt eine Comics-Serie und will Aufmerksamkeit schaffen. Eine Szene in einem Minibus macht deutlich, dass sexuelle Belästigung allen schadet, nicht nur den Opfern, denn es könnte die eigene Frau, Tochter oder Schwester treffen.

Der Präsident greift ein

Seit mehr als zehn Jahren, seit Mubaraks Zeiten, sind die Horden von jungen Männern, die vor allem an Festtagen Frauen belästigen und über sie herfallen, ein verstörendes Phänomen, und nur schwer zu verstehen ist, weshalb ausgerechnet an solchen Tagen alle Dämme brechen und soziale Schranken fallen. Nachdem es am Rande der Massenproteste während der Revolution von 2011 auf dem Tahrir-Platz zu Vergewaltigungen kam, die auch eine eindeutige politische Dimension hatten, hat sich das Bewusstsein langsam verändert.

Als bei den Feierlichkeiten zum Wahlsieg von Präsident Abdelfattah al-Sisi auf dem Tahrir-Platz im Juni 2014 erneut neun Frauen sexueller Gewalt ausgesetzt waren, reagierte das Staatsoberhaupt unerwartet dezidiert. Sisi wies das Innenministerium an, die Gesetze durchzusetzen und alles zu tun, um sexuelle Übergriffe zu bekämpfen.

Ein neues Gesetz, speziell zum Tatbestand Gewalt gegen Frauen, soll demnächst vom Parlament debattiert werden. Dann wird sich zeigen, ob Artikel fallen, die es heute dem Richter erlauben, Milde walten zu lassen in Fällen von "Ehrenmorden" oder wenn in "gutem Glauben" gehandelt wurde, eine Reverenz vor islamischem Recht, das dem Mann erlaubt, seine Frau zu disziplinieren.

Die Zahlen sind niederschmetternd. Sexuelle Belästigung gehört am Nil zum Alltag. Nach einer UN-Studie von 2013 haben 99,3 Prozent der ägyptischen Frauen und Mädchen sexuelle Belästigung selbst erlebt. Das heißt, betroffen sind alle Schichten, ob arm oder reich, gebildet oder Analphabetin, ob voll verschleiert oder mit engen Jeans.

Etwa 85 Prozent der Frauen fühlen sich deshalb auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht sicher. Metro, Busse und Taxis speziell für Frauen sind Angebote, von denen es immer mehr gibt. Sie bringen zwar Erleichterung, aber ändern nichts an den Ursachen. Sie sind deshalb bei Aktivistinnen umstritten, weil die Segregation noch gefördert wird.

Schleier des Schweigens

Dass sexuelle Übergriffe in der Öffentlichkeit nicht geahndet werden, hängt laut Experten eng mit der Akzeptanz der Gewalt in der privaten Sphäre zusammen. Etwa die Hälfte der Ägypterinnen gaben in einer Untersuchung des Gesundheitsministeriums an, sie hätten Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. In Tunesien liegt dieser Wert bei 42 Prozent. In Marokko haben 55 Prozent der Frauen Gewalt in der Ehe erlebt. 90 Prozent werden nicht angezeigt. Auch das ist ein Tabu, das langsam bricht. Kürzlich trat eine bekannte ägyptische Moderatorin im Fernsehen mit einem blauen Auge auf, misshandelt von ihrem Mann, und hielt einen flammenden Appell an alle Leidensgenossinnen, nicht länger zu schweigen und solche Demütigungen zu tolerieren.

Viele Gewaltfaktoren

Sexuelle Gewalt ist eine Facette eines schwierigen Verhältnisses von Mann und Frau, das von ganz vielen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und religiösen Faktoren beeinflusst wird. Diese Faktoren finden sich in den anderen nordafrikanischen Ländern wie Tunesien, Marokko und Algerien in fast identischer Ausprägung. Der Entwicklungspfad dieser Gesellschaften ist ganz ähnlich. Eine Ausnahme bildet nur die libysche Stammesgesellschaft. Welche Rolle die einzelnen Einflüsse spielen, wird je nach dem persönlichen Standpunkt einzelner Forscher anders gewichtet.

In dieser Region treffen gegenwärtig Moderne und Mittelalter aufeinander und das gilt ausgeprägt für das Frauenbild. Die Jahrhunderte alten Traditionen hinter den sozialen Rollen in diesen männlich dominierten Gesellschaften brechen nur langsam auf. Staat, Kultur und Religion sind repressiv und schränken die persönlichen Freiheiten ein. Die Religion ist aber nur ein Argument für die offensichtlichen Probleme mit der Sexualität in diesen nordafrikanischen Ländern mit ihren strengen sozialen Normen. Sie betreffen alle gesellschaftlichen Gruppen, so auch die christlichen Minderheiten.

Konservative Kräfte verhindern, dass etwa in den Schulen umfassende Sexualkunde betrieben oder gelehrt wird, mit dem andern Geschlecht zu kommunizieren, Beziehungen zu pflegen und Grenzen einzuhalten. Viele Jugendliche füllen ihre Wissenslücken übers Internet. Pornografische Inhalte, überkommene Rollenmodelle und unrealistische Erwartungen aus diesem Selbststudium führen zu verzerrten Vorstellungen von sexuellen Beziehungen und oft zu häuslicher Gewalt, haben Studien gezeigt.

Verstärkt wird die sexuelle Frustration durch widrige ökonomische Bedingungen, soziale Ungerechtigkeiten und Perspektivlosigkeit mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit von durchschnittlich 30 Prozent in den nordafrikanischen Ländern. Wer keine Familien ernähren kann, kann auch nicht heiraten, und sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe bleiben ein Tabu.

Belästiger sind Verbrecher

Es wird Jahre dauern, diese unterschwellige kulturelle Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen umzupolen, die sich oft darin äußert, dass die Schuld dem Opfer gegeben wird. Diese Normen zu verändern und die Menschen zu ermutigen, ihre Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und nicht wegzuschauen, haben sich Organisationen wie Harassmap zur Aufgabe gemacht. Eine ihrer Aktionen heißt: "Der Belästiger ist ein Verbrecher", eine andere: "Schweige nicht". Diese Einstellungen und Verhaltensweisen vor allem auch bei der Polizei zu ändern ist viel schwieriger, als neue Gesetze zu erlassen. (Astrid Frefel aus Kairo, 5.3.2016)