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Der französischer Regisseur Jacques Rivette ist 87-jährig gestorben.

Foto: AP/Michael Sohn

Paris – Einem hohen Anspruch zufolge hat die Kunst es mit dem Absoluten zu tun. Sie beschäftigt sich mit etwas, was keine Kompromisse erlaubt. Damit gerät sie aber in Widerspruch zum Leben, denn dieses ist nun einmal auf Fehlbarkeiten aufgebaut, es kann überhaupt nur halbwegs gelingen, wenn es sich nicht mit unbedingten Maßstäben überfordert. Der Filmemacher Jacques Rivette hat in seinem ganzen Werk über die Kunst und ihre Ansprüche nachgedacht, und zwar in einer spielerischen Form, für die er sich immer wieder in anderen Bereichen der Kultur bediente: beim Theater, beim realistischen Roman, beim Singspiel, bei der Malerei. Merry-Go-Round (1980) heißt einer seiner Filme aus der mittleren Phase. Von manchen Kritikern wird er als Fußnote abgetan, aber in diesem "Ringelspiel" zeigt sich der integrale Rivette genauso wie in seinen großen Arbeiten. In Merry-Go-Round lässt er sich vom Jazz inspirieren, einem improvisierenden Duo, das die Suche von Ben (Joe Dallessandro) und Léo (Maria Schneider) nach einem Vater, nach einem Haufen Geld, nach einem tragfähigen Familienzusammenhang immer wieder in tastendes Reagieren auflöst.

Verehrer Hitchcocks

Viele von Rivettes Filmen kreisen um ein leeres Zentrum, um eine Verschwörung, die sich in Nichts auflöst und in der sich das Wesen der Fiktion besonders deutlich zeigt. Sie hängt in der Luft, es gibt keine vorgegebene Verbindung zu einer Wirklichkeit, die alles bestimmt. Damit gelang es Rivette, nicht nur die Prinzipien des von ihm verehrten Spannungskinos von Alfred Hitchcock (mit seiner Idee des MacGuffins, eines Objekts, das zugleich Konzentration und Ablenkung produziert) gerecht zu werden, sondern auch, ohne es wohl ausdrücklich zu wollen, den großen Strömungen des französischen Denkens in der Nachkriegsepoche. Rivette war zugleich Strukturalist und Dekonstruktivist, an seinem Filmen kann man sehr schön sehen, wie diese beiden Pole des Denkens von Verhältnissen zwischen Wirklichkeit und Symbolisierungen einander immer wieder nahe kommen.

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Als Ende der Fünfzigerjahre eine ganze Gruppe von jungen Filmintellektuellen in Paris im Umfeld der Cahiers du cinéma es nicht länger mit dem Schreiben von Texten bewenden ließ, war Rivette, der 1928 in Rouen geboren wurde, derjenige, der am weitesten ausholte. Godard begann mit einem hypermodernen Gangsterfilm, Truffaut und Chabrol weitgehend autobiografisch, Rohmer mit einer moralischen Erzählung. Rivettes Paris nous appartient (Paris gehört uns) aber war bereits eine Art Gesamtkunstwerk, in dem eine Produktion von Shakespeares Perikles die Gelegenheit gibt, eine Weltgesellschaft (ein spanischer Avantgarde-Gitarrist, ein amerikanisches McCarthy-Opfer, eine französische Literaturstudentin) in nervöse Spannung zu versetzen. "Ich werde verrückt, oder ist es die Welt, die verrückt wird?"

Rivettes Filme suchen nach einer Rationalität innerhalb dieses Verdachts, dass nirgends ein sicherer Anker für das Bewusstsein zu werfen ist. Gelegentlich ging er zwar auch orthodoxer mit Texten um, so war zum Beispiel La religieuse (Die Nonne, 1965) eine sehr klassische Adaption der Geschichte von Diderot. Ausgerechnet damit erregte er den größten Skandal: Die katholische Kirche sah sich verunglimpft, in der restaurativen Stimmung unter dem späten De Gaulle kam es zu einem zeitweiligen Verbot des Films.

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Konsequent ließ Rivette darauf seine beiden mit Abstand komplexesten Arbeiten folgen, inspiriert vom Geist von 1968: L'Amour fou und Out 1, noli me tangere. In beiden Fällen ist das Theater die Szene, von der aus die Verhältnisse der künstlerischen Darstellung (freies Spiel auf Grundlage klassischer Texte, Improvisation und erzählerische Schließung) erforscht werden. 1974 ließ er darauf Céline et Julie vont en bateau (Céline und Julie fahren Boot) folgen, mit dem er im internationalen Arthouse-Kino (das damals noch nicht so bezeichnet wurde) seinen Durchbruch hatte. Eine Illusionistin und eine Bibliothekarin in einer vielfach gefalteten Geschichte, die um ein geheimnisvolles Haus kreist. Vage handelt es sich dabei auch um eine Adaption der Erzählung The Romance of Certain Old Clothes von Henry James. Für Rivette könnte man sagen, dass er die alten Kleider der Kunstgeschichte (romantisch) aufzutragen wusste wie kein anderer, in Klassikern wie Die Viererbande oder Die schöne Querulantin, in dem er seine Lebensthemen am Beispiel der Malerei verhandelte. Ein alter Meister (Michel Piccoli), ein junges Modell (Emmanuelle Béart), ein Bild, das etwas zeigt, und eine Übermalung, die alles verbirgt, ein (vielleicht) entstehendes und ein unbekanntes Meisterwerk.

Uncovered Emotions

In seinem berühmten filmkritischen Text Über die Niedertracht, in dem Rivette 1960 eine Kamerabewegung in Gillo Pontecorvos Kapo zum Ausgangspunkt einer radikalen Absage an alles Dekorative und Zeigende in der Kunst der "In-Szene-Setzung" nahm, wurde deutlich, dass seine Ansprüche an das Kino die allerhöchsten waren. Rivette verkörperte das Pathos der Nouvelle Vague, dass jede Kamerafahrt eine Angelegenheit der Moral ist, besonders leidenschaftlich, aber er ließ auch deutlich werden, dass die Kunst erst jenseits der Moral beginnt. In seinem letzten Film 36 vues du Pic Saint-Loup ließ er schon im Titel erkennen, dass er sich als ein Sammler von Blicken verstand und nicht so sehr als jemand, der nach dem "wahren" Bild sucht. Der Zirkus, der hier um das Überleben kämpft, ist eine weitere Ausprägung im "Ringelspiel" der Formen, die Jacques Rivette in ein Kino integriert hat, das sich im Rückblick wie ein riesiger, labyrinthischer, szenischer Freiraum für den Geist und die Sehnsüchte ausnimmt. Am Freitag ist Rivette im Alter von 87 Jahren gestorben. (Bert Rebhandl, 29.1.2016)