Vorhang auf für die Bühne einer schleichenden Verwandlung: Kate (Jane Birkin) und ihr clowneskerGehilfe Vittorio (Sergio Castellito) in Jacques Rivettes "36 Ansichten des Pic Saint-Loup".

Foto: Stadtkino

Wien - "Nichts ist manchmal alles" , sagt einer der Clowns in 36 Ansichten des Pic Saint-Loup einmal. Ein Satz, der auch die sanfte Dringlichkeit des neuen Films des 82-jährigen Nouvelle-Vague-Solitärs Jacques Rivette zum Ausdruck bringt: Ein großes Thema, die Auflösung eines mysteriösen Traumas, wird auf kleinem Raum, unter freiem Himmel und mit einfachen Mitteln ausgetragen. Jane Birkin verkörpert Kate, die die Manege eines Wanderzirkus vor mehr als 15 Jahren verlassen hat (die Ursache dafür bleibt lange im Dunklen); Sergio Castellito ist Vittorio, eine Zufallsbekanntschaft, die sich als wesentliche Hilfskraft ihrer Rückkehr entpuppt. Rivettes Liebe zu Bühnen, sein Spiel mit Rollen und den Möglichkeiten der Täuschung, verlagert sich hier erstmals ins Rund einer Zirkusbühne, auf der man von Erinnerungen befreit werden kann - so man sich denn lässt.

Standard: In "36 Ansichten des Pic Saint-Loup" spielen Sie eine Frau, die in die Manege zurückfindet. Wie war die Rückkehr zu Jacques Rivette - der letzte Film, "La Belle Noiseuse" , liegt immerhin fast zwanzig Jahre zurück? Ist der Film eine Parabel auf sein Kino?

Birkin: Daran hab ich noch gar nicht gedacht! Rivettes Welt ist einem Zirkus tatsächlich sehr ähnlich. Wenn man nicht bei ihm ist, vermisst man ihn und seine Filme. Den ersten Film mit ihm, L'amour par terre, machte ich vor 27 Jahren, da wurde meine Tochter Lou geboren. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass er für mich noch einmal Verwendung haben wird.

Standard: Warum denn das?

Birkin: Wenn man das erste Mal mit Rivette arbeitet, versteht man nicht so recht, was geschieht. In L'amour par terre gab er uns das Skript für die Szenen fünf Minuten vor dem Dreh. Ich konnte es gar nicht genießen. Geraldine Chaplin hatte die gleichen Probleme wie ich, aber Rivette wartete auf einen Unfall - er mag es, wenn die Schauspieler im Dunkeln tappen. Selbst mit komplizierten Szenen, die wie in einem Stück von Marivaux funktionierten, mit vielen Türen und komischen Dialogen, machte er uns nicht vertraut. Ich war sehr durcheinander, ich kratzte mich, bis ich blutete ... Ihm wollte ich ja nicht wehtun, denn er ist so fragil.

Standard: Dennoch haben Sie "La Belle Noiseuse" mit ihm gedreht ...

Birkin: Da kannte ich seine Methode schon. Und es gab den wunderbaren Piccoli, der mir bei den Dialogen half - wir probten immer in der Früh. Der Pic Saint-Loup war damals schon nahe, aber ich nahm ihn nicht wahr. Menschen haben mich immer mehr interessiert als Ausblicke auf Landschaften: Eine ältere Dame, die in der Résistance gekämpft hatte, lebte in dem Gebäude, das wir benutzten. Als ich jetzt den Berg wiedersah, verstand ich erst, dass er Rivette eine lange Zeit nicht aus dem Kopf gegangen sein musste.

Standard: Gab er denn diesmal mehr preis - oder ließ er Ihnen wieder viel Raum für Improvisation?

Birkin: Rivette sagt einem ja ganz genau, was man tun soll. Er muss etwas wissen, das er nicht teilen will. Manchmal habe ich es bei Pascal Bonitzer versucht, der für das Drehbuch verantwortlich war. Er sagte, er habe den Text für den nächsten Tag, aber Jacques hätte ihn noch nicht gesehen. Es sei gegen seine Politik, ihn mir vorher zu zeigen. Serge Castellito und ich waren wie Kinder, und Rivette war selbst wie ein Kind, das mit uns spielte. Es erinnerte ein wenig an Ferien. Manchmal waren wir um vier am Nachmittag fertig, dann fuhr Rivette nach Montpellier, um ins Kino zu gehen. Er tat das fast jeden Abend.

Standard: Er ist zwar berüchtigt für seine Cinephilie - aber er geht auch während des Drehs ins Kino?

Birkin: Ich glaube, das Kino ist sein Zuhause. In Paris sieht er sich drei Filme pro Tag an. Er schaut sich alles an, auch Filme, auf die alle anderen schimpfen wie Terminator 4. Er macht diese Unterschiede nicht. Er liest seine Zeitungen, isst eine Kleinigkeit, um nicht zu sterben, und dann geht er in seinen ersten Film. Seine Freundin schaut zum Glück gut auf ihn.

Standard: Mit welchen Gefühlen betrachten Sie den Karriereschub Ihrer Tochter Charlotte - bei Lars von Trier bewies sie ja viel Mut?

Birkin: Ich bin überaus erfreut. Alles, was sie zuletzt spielte, ob in dem Gondry-Film oder dem Dylan-Film, war toll. Sie benötigte den Lars-von-Trier-Film, um wahrgenommen zu werden: Sie wollte den Film unbedingt machen - sie war wild entschlossen, das ist sie eigentlich immer, vielleicht weil es bei ihr so lange gedauert hat.

Standard: In Ihrem Film "Boxes" beschäftigen Sie sich auch mit Ihrer Rolle als Mutter.

Brikin: In Boxes hat mich diese Sorge interessiert, keine gute Mutter zu sein - wenn man nicht zum richtigen Zeitpunkt da ist, keine Türen aufmacht, wenn sie zugeschmissen werden. Mich haben ja auch die Väter meiner Kinder mit zwei hysterischen Teenagern zurückgelassen. Die Kinder sind mein größter Stolz! Was mir auch wichtig ist: das Engagement für Menschenrechte. Damit vermag ich Schicksale ein klein wenig zu verändern. Das Geld dafür kommt vom Verkauf der Birkin-Tasche.

Standard: Der Hermès-Tasche?

Birkin: Ja, kennen Sie die Geschichte? Ich war im Flugzeug, als meine Tasche auf den Boden fiel. Alles purzelte heraus, und der Mann neben mir sagte, ich sollte doch die Taschen meines Hermès-Organizers nutzen. Ich sagte: "Hermès macht keine Organizer mit Taschen." Worauf er sagte: "Ich bin Hermès." Es war Jean-Louis Dumas, und das war der Beginn dieser Tasche, in die man jeden Mist hineinbringt. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 31. 3. 2010)