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Boykottaufforderung nach dem Jet-Abschuss Ende November vor der türkischen Botschaft in Moskau. Das Fernbleiben der Russen trifft Ankara massiv.

Foto: APA / EPA / Sergej Ilnitsky

Wenn sie nur könnten, dann würden sie jenen 24. November rückgängig machen: den Moment, als der türkische Pilot auf den Knopf drückte und den russischen Kampfjet abschoss, der ganze 17 Sekunden den Luftraum verletzt hatte. Die Türken bekommen seither Wladimir Putins Zorn zu spüren. Nichts, so scheint es, kann den russischen Präsidenten besänftigen – außer einer schlichten Entschuldigung für den Abschuss der Maschine und den Tod des russischen Piloten im syrischen Rebellengebiet. Dazu aber ist die türkische Führung noch nicht bereit.

0,3 bis 0,7 Prozentpunkte könnten Russlands Sanktionen das Wachstum der türkischen Wirtschaft in diesem Jahr kosten, so schätzt die Europäische Bank für Wiederaufbau (EBRD). 0,44 Prozentpunkte hat der Thinktank Tepav in Ankara in einer gerade erschienenen Studie errechnet.

Zusätzliche Schäden

Die Wirtschaft im einstigen Boomland würde 2016 dann nur ein verhältnismäßig mageres Plus von 2,44 Prozent einfahren – vorausgesetzt, es passieren nicht noch mehr diplomatische Unfälle und militärische Interventionen.

Der Krieg in den Kurdenstädten im Südosten der Türkei schadet jetzt schon Handel und Tourismus; eine Parteinahme für Saudi-Arabien im neuen Konflikt am Golf könnte auch noch die Wirtschaftsbeziehungen der Türkei zum Iran ruinieren.

Präsident und Regierung in Ankara hat die russische Antwort auf den Flugzeugabschuss gänzlich unvorbereitet erwischt, so wird nun deutlich. Embargo für viele türkische Produkte, Lizenzentzug für russische Tourismusunternehmen, die Türkeireisen organisieren; türkische Geschäftsleute, die auf der Polizeiwache festgehalten werden; türkische Handelsschiffe, die tagelang nicht mehr aus russischen Häfen auslaufen können; plötzlich keine Visa für türkische Flugbesatzungen, die nach Moskau fliegen wollen. Jede Woche fällt dem Kreml etwas Neues ein.

Der Katalog der Strafmaßnahmen aus Russland trifft viele türkische Händler und Hersteller, besonders aber den Tourismus. 4,5 Millionen russische Touristen kamen zuletzt pro Jahr in die Türkei. Nicht alle vergnügten sich in Resortanlagen am Mittelmeer. Viele von ihnen sind in der sogenannten Kofferwirtschaft. Sie reisen als Touristen via die beiden Flughäfen in Istanbul ein, kaufen dann vor allem Textilien und fliegen sie, in enorme Paketwürfel gepackt, zum Weiterverkauf nach Hause. Auf 4,3 Milliarden Dollar soll sich diese Kofferwirtschaft der Russen 2014 belaufen haben.

Jetzt wird gerechnet, was passiert, wenn die Russen nicht mehr kommen und kaufen. Die Ökonomen bei Tepav schätzen den Schaden durch die Sanktionen auf 4,2 Milliarden Dollar im günstigeren Fall und auf doppelt so viel, sollten etwa 1,5 Millionen russische Touristen ausbleiben und der Absatz türkischer Produkte auf Ersatzmärkten in anderen Ländern nicht so funktionieren, wie die Regierung es ihren geschäftstreibenden Bürgern verspricht.

Einseitige Abhängigkeit

Die Türkei exportiert nichts, was sich russische Abnehmer nicht auch auf anderen Märkten relativ einfach besorgen könnten: Nutzfahrzeuge, Obst, Gemüse, Maschinen. Andersherum sieht es schwieriger aus: Mehr als 70 Prozent ihrer Energielieferungen bezieht die Türkei aus Russland.

Dass es bei dem fatalen Luftzwischenfall im vergangenen November weniger ums Prinzip als um Politik ging, hat der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu mittlerweile zu erkennen gegeben. Es waren die russischen Bombenangriffe gegen Rebellen der turkmenischen Minderheit in Syrien nahe der türkischen Grenze, die Ankara aufgebracht hatten und für die Russland eine Lektion erteilt werden wollte.

In einer seiner wöchentlichen Reden vor der Parlamentsfraktion in Ankara zog Davutoglu mit einem Mal einen Vergleich zwischen Syrien und der Ukraine, zwischen den Interessen der Türken und jenen der Russen in ihrem jeweiligen Nachbarland.

"Wenn wir Gebiete in der Ostukraine bombardiert hätten, die Verwandtschaftsbeziehungen zu Russland hat wie die Verwandtschaftsbeziehungen, die wir mit den Bayirbucak-Turkmenen haben", so erklärte Davutoglu, "indem wir einem Aufruf der Ukraine gefolgt wären und dabei auch russischen Luftraum verletzt hätten, genauso wie Russland angibt, einem Aufruf Syriens zu folgen, dann frage ich mich, was Putin darüber denken würde und was er täte." (Markus Bernath, 12.1.2016)