Lemmy Kilmister und Motörhead bei ihrem legendären Auftritt in der Wiener Arena 1992: "Built for speed!"

Foto: Robert Newald

Los Angeles / Wien – Lebe schnell. Sterbe jung. Und hinterlasse eine schöne Leiche. Niemand will für ewig leben. Getötet vom Tod! Aber auch: Niemand will in den Himmel kommen, niemand will sterben. Und jetzt: Ratzfatz, hurga! Auf sie mit Gebrüll! Bam! Bam! Bam! Die Gitarre jault. Das Schlagzeug dreht im Schlagbohrermodus durch. Bomber, Bomber. Overkill! Noch eine Nase. 120 Genickwatschen pro Minute sind ein gutes Betriebstempo. Nicht in die Augen schauen, da werden wir gach böse! Jetzt ein Vierterl Reißnägel rot, auf ex. Augen auf, nicht schlucken. Durch! Die Stimme wird es einem nicht danken.

Japsen ist gut. Röcheln wie ein verwundetes Raubtier. Schnell, schnell, schnell. Gleich kommt der Kollaps: geboren, um zu verlieren! Uh-yeah. Röchel, Grappa von gestern, zurück zum Start. Sodbrand für immer. Nix: du Baby. Besser: du Nudlaug! Sauce zum Fleisch brauchen wir auch nicht, ihr Mädchen. Der Tiger tut seine Beute auch nicht bei 120 Grad vier Stunden im Rohr kernwarm durchziehen lassen und mit Rosmarin, ein wenig Knofel und Rispentomaten behübschen. Der Tiger frisst seinen Fang nicht am, sondern im Gemüse. Roh und blutig. Und jetzt lauf heim und sag es deiner Mama!

MotörheadBander

Rein von der Haltung her war Lemmy Kilmister zeitlebens nicht nur wahnsinnig schnell unterwegs. Der Mann, der Amphetamine aufgelöst in Wodka zum Frühstück inhalierte, um sich dann im weiteren Verlauf des Nachmittags mit Speed und russischen Vitaminen wieder auf Betriebstemperatur herunterzubringen, war der buchstäbliche Motörhead, Speednik, Turbobolzen. Lemmy Kilmister wählte vor gut 40 Jahren den Namen seiner einen, einzig wahren Band nicht umsonst. Motörhead steht für Raserei und Bleifuß. Motörhead steht aber auch für drei Tage wach und sehend ins Unglück. Eins, zwei, drei, vier, mit dem Kopf durch die Tür.

Der britische Bassist feierte am 24. Dezember noch gemeinsam mit dem Christkind daheim in der ewigen Studentenbude in Los Angeles seinen rüstigen 70er. Irgendwelche Weicheier hatten ihm infolge der jüngsten Attentate in Paris die Europatournee gekürzt, abgesagt oder weggeschwuchtelt. Das geht so rein gar nicht, wenn man mit den schönsten Erfolgen seiner Band zwecks Schlafentzug in Guantánamo Tag und Nacht und Nacht zum Tag von der U.S. Army eingesetzt wird: "Another town, another girl, another hotel we can burn ..." Aber bitte, machen wir eben Tourpause. Der Kreislauf wird es einem nicht danken. Und das Essen muss man sich auch selbst bestellen. Wenn man etwas Festes essen wollen würde.

Leute, die ihm in den letzten Jahren näher als auf drei Meter vor der Bühne gekommen sind, wussten, dass im kleinen Mann mit dem wenig plausiblen dunklen Haar ("Otherwise I would look like fuckin' Willie Nelson!") und der durchsichtigen Tagesfreizeithaut die Jahre eine gewisse Bringschuld angehäuft hatten: Alkohol, appetitzügelnde Fernfahrerdrogen, Cowboy-Zigaretten, schlafen erst nach Mitternacht, kalte Pizza zum Frühstück, kalte Spaghetti als Business-Lunch. Beim Arzt allerdings aggressiven Krebs diagnostiziert bekommen und zwei Tage danach tot zu sein ist selbst für Menschen, denen im Leben immer alles zu langsam vorkam, weil ja auch nichts weitergeht, ein wenig sehr schnell. Verdammt.

Geboren, um zu sterben

Lemmy Kilmister startete in den 1960er-Jahren seine Karriere als Roadie und Drogenbeschaffer von Jimi Hendrix – und er flog später genau wegen dieser Beschaffungs- und Eigenbedarfsdrogen aus der britischen Drogenband Hawkwind hinaus. Für deren Hit "Silver Machine" zeichnete er 1972 als Sänger und Bassist mitverantwortlich. Davor gab es noch mittelunbekannte Bands wie Sam Gopal oder The Rocking Vicars (der Herr Vater war ein davongelaufener Pfaffe). Danach, ab 1975, gab es nur noch Motörhead. Legendär die immergleiche Einleitung des Konzerts: "Good evening, we're Motörhead and we're gonna play some Rock 'n' Roll!" Unkonventionell wie zu blutigen Fingern neigend das Bassspiel Lemmys. Er konnte es nie verwinden, eigentlich ein Gitarrist zu sein, und drosch den dicksaitigen Bass mit Akkordgriffen.

Auch wenn Motörhead heute im schlanken Trio der an der Unvernunft gescheiterten Originalbesetzung mit Lemmy am Bluthochdruckbass und Lungeninfarktmikro, "Fast" Eddie Clarke an der nervöse Bluesrockriffs reißenden Entzugsgitarre und Phil "Philthy Animal" Taylor am Muppets-Show-Schlagzeug Alben wie "Overkill", "Bomber" oder "Ace of Spades" oder das göttliche, pädagogisch wie künstlerisch völlig wertlose "No Sleep 'til Hammersmith" von 1981 veröffentlichten: Zur beständigen Größe wuchs der in Metal-Musiker-Kreisen als Gründervater verehrte Lemmy Kilmister in den letzten vier Jahrzehnten vor allem auch als nicht unterzukriegendes Faktotum im internationalen Festivalzirkus.

Große Umstände machte er sich dabei nie. Ein Lied ist ein Riff. Die Textdichtung, das Basteln von Mitteilungen im Reimzwang dauern so lange wie ein Glas Wodka mit Schuss – und ein Scheißalbum wechselt sich mit einer guten Arbeit ab. Heavy Metal ist nicht nur eine Berufung, es ist ein Berufszweig. Die Unvernunft treibt einen Lemmy an – und sie zerstört ihn zugleich. Was war das für ein schönes, großartiges, dreckiges, scheiß-gottverdammtes Leben. Wir alle würden es jederzeit wieder mit ihm tun.

Zuletzt veröffentlichten Motörhead mit "Bad Magic" ein sehr, sehr gutes Album. Es ist ein Vermächtnis geworden. Nun ist Lemmy Kilmister dem Leben erlegen. 70 Jahre waren eine gute Zeit. Auch wenn sie vielleicht nicht immer ganz so gut war. Verdammt. (Christian Schachinger, 29.12.2015)