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Am Tag nach der Wahl wird in Madrid ein Plakat von Mariano Rajoy entfernt.

Foto: AP Photo / Emilio Morenatti

Ergebnis der spanischen Parlamentswahl vom Sonntag.

Spanien betritt nach der Wahl vom Sonntag parlamentarisches Neuland. Zwar liegen die alten Großparteien PP und PSOE mit 28,7 und 22 Prozent noch auf den ersten beiden Plätzen. Die neuen alternativen Bewegungen Podemos und Ciudadanos erreichten aber auf Anhieb zweistellige Ergebnisse. Nun steht in Madrid eine schwierige Koalitionssuche bevor. Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik über mögliche Koalitionsvarianten und die neue Erfahrung, die Spanien damit erwartet.

STANDARD: Nach mehr als drei Jahrzehnten haben die Bürger das System zweier Großparteien in Spanien abgewählt. Welche Faktoren waren dafür verantwortlich?

Maihold: Zum einen geht es um die Erschöpfung des traditionellen Parteiensystems, das sich unter dem Vorwurf, korrupt und nicht mehr repräsentativ zu sein, immer stärker von der Bevölkerung entfernt hat. Zum anderen spielte die wirtschaftliche und soziale Krise in Spanien eine Rolle. Kritik gab es vor allem an einem Sparprogramm, das auf die Notwendigkeiten und die Sensibilität der Bevölkerung nicht eingegangen ist.

STANDARD: Viele Spanierinnen und Spanier haben sich für zwei neue Parteien entschieden, eine stabile Regierung ist damit aber nur schwer möglich. Welche Koalitionsvariante ist die wahrscheinlichste?

Maihold: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man gar nicht sagen, welche die wahrscheinlichste ist, weil dieses Ergebnis für alle Akteure einen Start ins Leere bedeutet. Sie haben keinerlei Erfahrungen, wie dieses System von Koalitionen oder Tolerierung von Minderheitsregierungen funktioniert. Das hat eine ganz positive Nebenwirkung: Die bisherigen Strategien der Polarisierung zwischen der Volkspartei und den Sozialisten tragen nicht mehr und müssen auf Konsens ausgerichtet werden. Das wird ein schwieriger Lernprozess, der nicht notwendigerweise kurzfristig zu einem Ergebnis führen muss.

STANDARD: Könnte diese neue Konsenspolitik auch zu einer großen Koalition zwischen Volkspartei und Sozialisten führen, oder bleibt das in Spanien sehr unwahrscheinlich?

Maihold: Ich glaube, dass keine der beiden Parteien diesen Weg letztlich bevorzugen würde, weil natürlich noch genügend andere Player da sind, mit denen man versuchen könnte, Tolerierungsmodelle oder Koalitionen zu begründen. Ich kann mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Modell einer großen Koalition eigentlich am wenigsten vorstellen.

STANDARD: Wie realistisch ist dann eine linksgerichtete Koalition aus Sozialisten, Podemos und weiteren Kleinparteien? Podemos-Chef Pablo Iglesias hat das ja ausgeschlossen, wenn seine Partei weniger Stimmen erhält als die PSOE.

Maihold: Es bedarf jetzt der Konsensfindung und Kompromissfähigkeit – da haben sich natürlich die neuen Parteien sehr weit aus dem Fenster gelehnt mit Positionen, von denen sie de facto wieder heruntermüssen, wenn sie irgendeinen Einfluss auf das politische Geschehen bewahren möchten. Rajoy wird wahrscheinlich vom König beauftragt werden, eine Regierung zu bilden, und kann versuchen, mit Ciudadanos und Regionalparteien ein Tolerierungsmodell zustande zu bringen. Nur wenn das scheitert, sehe ich die Chance gekommen, dass sich dieselbe Bemühung auf der linken Seite des politischen Spektrums in Gang setzen wird.

STANDARD: Welche Rolle spielten diese Regionalparteien zuvor?

Maihold: Einige Regionalparteien haben das auch in der Vergangenheit bereits so gemacht: Wenn die Mehrheiten nicht reichten, haben sie sich auf eine Abstimmungskoalition eingelassen und bei den für sie relevanten Punkten in besonderem Maße ihre Interessen ausverhandelt.

STANDARD: Wie stabil ist Podemos mittlerweile?

Maihold: Podemos hat bei den Kommunalwahlen eine Fülle von Bürgermeisterämtern errungen und dadurch schon Koalitionserfahrung gesammelt. Insofern ist das eine Partei, die sich derzeit im Professionalisierungsprozess befindet, der natürlich dazu führen wird, dass es immer wieder zu Abspaltungen, Widersprüchen und internen Klärungsprozessen kommen wird. Aber durch diese lange außerparlamentarische und in jüngerer Zeit auch schon parlamentarische Sozialisation ist sie auf dem Weg, zu einem stabilen Bestandteil dieses Parteiensystems zu werden.

STANDARD: Podemos lag in Umfragen Anfang des Jahres noch auf Platz eins. Könnte da die "Entzauberung" der griechischen Syriza-Regierung eine Rolle gespielt haben?

Maihold: Syriza und Podemos sind doch relativ stark aus den nationalen Kontexten zu interpretieren. Wir haben ja auch in Portugal gesehen, dass die konservative Regierung abgewählt wurde und sich eine Linkskoalition etabliert hat. Man könnte sagen, dass Podemos auch daraus entsprechende Unterstützung sammeln konnte. Ich glaube, letztlich ist es eine Frage des zeitlichen Ablaufs gewesen. Ciudadanos wurde so gehypt, dass Podemos plötzlich nur noch unter ferner liefen agierte. Aber letztlich konnte Ciudadanos sich nicht in der Gesamtheit des Territoriums konsolidieren, und damit ist Podemos als die verlässlichere oder politisch artikuliertere Version von Opposition wieder stärker in den Vordergrund gerückt.

STANDARD: Wieso konnte Ciudadanos die Erwartungen nicht erfüllen?

Maihold: Das ist die eigentliche Überraschung, dass Ciudadanos erheblich unter dem Level geblieben ist, das viele vorausgesagt haben. Offensichtlich war die politische Mitte nicht so stark in der Wählerschaft besetzt, wie erwartet wurde. Das sind noch Folgen dieser Polarisierung, die wir in vorausgehenden Wahlen immer wieder gesehen haben. Ciudadanos muss sich erst konsolidieren und vor allem eine klarere Einsicht darüber gewinnen, welche die Positionen sind, an denen sie wirklich festgemacht werden kann.

STANDARD: Wird Mariano Rajoy weiterregieren können?

Maihold: Momentan gibt es zu ihm keine Alternative – in seiner Partei. Er hat zumindest die Chance des ersten Zugriffs, um zu zeigen, ob er in der Lage ist, eine Koalition oder ein Tolerierungsmodell auf die Beine zu stellen.

STANDARD: Wie wahrscheinlich sind Neuwahlen? Wer würde davon profitieren?

Maihold: Zunächst kann man gar nicht an Neuwahlen denken. Wenn man jetzt erneut an den Wähler herantreten würde, wäre das ein deutliches Zeichen für das Scheitern der Politiker, teilweise auch das Scheitern der Demokratie, die jetzt in eine neue Phase tritt. Insofern sind jetzt erst einmal die Politiker in ihren Fähigkeiten gefordert und nicht wieder der Wähler.

STANDARD: Die Koalitionsverhandlungen werden also in jedem Fall zu einem positiven Ergebnis kommen, auch wenn es länger dauert?

Maihold: Wir werden zu irgendeinem Modell kommen, und sei es ein Tolerierungsmodell. Ob das dann für die gesamte Legislaturperiode hält, ist eine andere Frage. (Noura Maan, 21.12.2015)