Erstmals seit den 1950er-Jahren ist ein russisches (damals natürlich sowjetisches) Flugzeug durch einen Nato-Partner – in diesem Fall die Türkei – abgeschossen worden. Das kann weitreichende Folgen haben: diplomatische, politische und schlimmstenfalls auch militärische. Die Nato hat den Ernst der Lage sehr schnell erkannt und sofort eine Sondersitzung einberufen. Die westliche Allianz, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin naturgemäß ein Dorn im Auge ist und von ihm als permanent-latenter Bedrohungsfaktor gesehen wird, signalisiert damit Richtung Russland, dass Zwischenfälle wie dieser keineswegs zur üblichen Vorgehensweise gehören.

Moskau spricht von "Provokation", Putin gar von einem "Messerstich in den Rücken". Man beschuldigt Ankara mehr oder weniger direkt, einen Versuch unternommen zu haben, die internationale Koalition gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zu korrodieren oder gar zu spalten. Tatsächlich existiert eine solche Koalition noch nicht wirklich, zumindest nicht in einer belastbaren Form. Bei den in Syrien und im Irak bereits engagierten Militärmächten herrscht Einigkeit bloß in einer Sache: dass der IS der Feind ist. Die Frage, welche anderen Kräfte in "gut" oder "böse" zu kategorisieren sind und was mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad geschehen soll, beschäftigt die Diplomatie bisher ebenso lang wie ergebnislos – das konnte man bei den Syrien-Gesprächen in Wien sehen.

Ist der Abschuss der SU-24 tatsächlich eine "Provokation"? Kaum, und das weiß wohl auch Putin. Ankara dürfte angesichts der jüngsten Entwicklungen im Bürgerkriegsland hochgradig nervös sein, hat doch Russland erkennen lassen, in den Kurden einen möglichen Partner im Kampf gegen die Extremisten zu sehen. Das wäre ein absolutes No-Go für die Türkei, die in Syrien vorwiegend kurdische, viel weniger aber IS-Stellungen angreift. Gleichzeitig erscheint auch der Gedanke nicht ganz abwegig, dass der türkische Präsident Tayyip Erdogan die Situation ausnützen möchte, um seinen eigenen Stellenwert in der Weltpolitik wieder zu betonen – nicht zuletzt jetzt, da Putin nach langer Isolation infolge des Ukraine-Konflikts wieder auf die große Bühne der Weltpolitik tritt.

Oberste Priorität muss aber eine allseits akzeptable Abklärung des Flugzeug-Zwischenfalls haben, sonst droht sich für die fragile Anti-IS-Koalition eine weitere Front in dem Konflikt aufzubauen. (Gianluca Wallisch, 24.11.2015)