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Die Schweizer Flagge, gehisst am Nationalfeiertag auf dem Berg Säntis.

Foto: REUTERS/ARND WIEGMANN

Was im Vorfeld der Schweizer Nationalratswahl prophezeit wurde, hat sich – wenn auch nicht so stark – bewahrheitet: Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei konnte Stimmen dazugewinnen, mit 29,4 Prozent erreichte sie 65 Sitze im Nationalrat. Damit übertraf die SVP auch ihr bisheriges Spitzenresultat aus dem Jahr 2007 leicht.

Die mediale Inszenierung der SVP, die auch in der Schweizer Berichterstattung auf große Resonanz stieß, spielte laut Beobachtern eine entscheidende Rolle bei dem Wahlerfolg. STANDARD-Korrespondent Klaus Bonanomi stellt sich hier den Fragen der Userinnen und User zu den Hintergründen und Konsequenzen des Schweizer Wahlergebnisses.

User princeps legibus solutus und User Zebra interessieren sich für die genauen Modalitäten des Schweizer Wahlrechts:

Die SVP hat nur 2,8 Prozent an Stimmen dazugewonnen, aber gleich elf Mandate. Wie kommt eigentlich die Verteilung der Nationalratssitze zustande? Nach dem Verhältniswahlrecht oder dem Mehrheitsprinzip im Wahlkreis? So ganz habe ich das noch nicht durchschaut.

Klaus Bonanomi: Das ist wie fast alles in der Schweiz von Kanton zu Kanton verschieden. Die Schweiz ist nicht ein einziger Wahlkreis; entsprechend kann der nationale Wähleranteil nicht eins zu eins auf die Sitzverteilung im Nationalrat übertragen werden. Aufschlussreicher ist es, den Wähleranteil in jedem Kanton einzeln zu betrachten. Denn jeder Kanton hat je nach Einwohnerzahl Anrecht auf eine bestimmte Anzahl Sitze im 200-köpfigen Nationalrat; der Kanton Zürich zum Beispiel deren 35, Genf deren elf, bis hin zu Kleinkantonen wie Glarus, die gar nur einen Sitz im Nationalrat haben. Gewählt wird im Proporz- oder Verhältniswahlrecht, das heißt, die Parteien haben dann entsprechend ihrem Wähleranteil im jeweiligen Kanton eine entsprechende Anzahl Sitze. Wenn eine Partei nun in einem Kanton bisher knapp "untervertreten" war, reicht unter Umständen schon ein kleiner Zugewinn an Wählerstimmen, um einen zusätzlichen Sitz zu gewinnen. Davon hat die SVP diesmal deutlich profitiert, nachdem sie letztes Mal eher "Proporzpech" hatte und verschiedene Sitze nur knapp nicht eroberte. In Zürich zum Beispiel hat die SVP mit 0,9 Prozent mehr Wählerstimmen einen Sitz hinzugewonnen. Im Nationalrat ist die Partei nun mit 29,4 Prozent Wähleranteil und 32,5 Prozent der Sitze (65 von 200) leicht übervertreten. Das hängt auch damit zusammen, dass einige Wählerstimmen "verlorengehen", weil sie an Parteien gehen, die den Sprung ins Parlament nicht schaffen. In Glarus zum Beispiel, wo nur ein Sitz zu vergeben ist, sind alle Stimmen, die nicht auf den Wahlsieger entfallen, verlorene Stimmen. Damit benachteiligt das Schweizer Wahlsystem die kleinen Parteien wie die Grünen, die mit 7,1 Prozent Wähleranteil nur 5,5 Prozent der Sitze eroberten, also im Nationalrat untervertreten sind. Sieben Prozent Wählerstimmen reichen eben in kleineren Kantonen nicht, um einen Sitz zu holen.

User Waukal möchte wissen:

Klaus Bonanomi: Die Wahlbeteiligung ist in der Tat niedrig; sie war aber auch 2011 und 2007 ähnlich tief und auch zuvor nie weit darüber. Bis 1975 lag sie etwas über 50 Prozent, seither immer darunter. Das wird zwar allgemein bedauert, und die Medien nehmen jedes Mal wieder einen Anlauf, um die Wähler zu mobilisieren; wie man aber sieht, mit wenig Erfolg. Institutionelle Versuche, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, gibt es kaum. Politologen nennen verschiedene Gründe: das komplizierte Wahlrecht etwa oder die Tatsache, dass das Parlament gar nicht so mächtig ist, weil die Schweizer ja an der Urne ein nicht genehmes Gesetz wieder versenken können oder mit Volksinitiativen selber Druck aufsetzen können. Das Schweizer Volk hat somit immer "das letzte Wort"; auf diesen Aspekt bezieht sich auch das Bild der vermeintlichen "Vorzeigedemokratie". Zudem sind die Schweizer Wahlen weniger "publikumswirksam", weil es hier nicht zu einem Kampf "Regierung gegen Opposition" und zu einem Duell zweier Spitzenkandidaten kommt wie in Deutschland, Österreich oder Großbritannien, was tendenziell eher mobilisierend wirken würde. Das zeigte sich zum Beispiel in Zürich, wo ein Boulevardblatt in einem Boxring ein Duell inszenierte zwischen den beiden prominenten Quereinsteigern, dem "Weltwoche"-Chef Roger Köppel von der SVP alias "The Right Hook" und dem renommierten Diplomaten "The Rambassador" Tim Guldimann von der SP; die beiden wurden dann hervorragend gewählt, was auch auf diesen verbalen Schlagabtausch zurückgeführt wurde. Oder schließlich, letzter möglicher Grund: Die Nichtwähler sind zufrieden damit, wie es läuft, und sehen keinen Grund einzugreifen. Anzumerken bleibt, dass fast ein Viertel der Schweizer Einwohner gar kein Wahl- und Stimmrecht hat: die Ausländer, die oftmals darauf verzichten, das lange und hürdenreiche Einbürgerungsverfahren auf sich zu nehmen.

Für die Rolle von Roger Köppel beziehungsweise die medialen Reaktionen auf dessen politisches Engagement interessiert sich User oder aber:

Klaus Bonanomi: Roger Köppel ist seit langem in der Schweiz eine kontroverse Figur; dass er die "Weltwoche" von linksliberal auf nationalkonservativ getrimmt hat, haben ihm viele übelgenommen. Die Auflage des Blattes ist denn auch deutlich geschrumpft. Aber seinen publizistischen Einfluss hat Köppel dennoch ausgebaut; er ist häufig Gast in Talkshows und sorgt für Schlagzeilen in der Presse. Dass er mit seinem rechtskonservativen politischen Profil gut zur SVP passt, war schon lange klar; dass er aber nun tatsächlich in die Politik einsteigt, hat doch viele überrascht. Es wird nun interessant sein zu sehen, wie er mit der Doppelrolle als Journalist und als Politiker umgehen wird.

In der These, dass die SVP ihren Wahlerfolg der geballten Medienpräsenz verdanke, sieht User recouvrer_la_raison5 einen gewissen Widerspruch:

Klaus Bonanomi: Eine interessante Frage. Die Universität Zürich hat die Wahlkampf-Berichterstattung der Schweizer Medien untersucht und festgestellt, dass die SVP deutlich öfter vorkommt, als es ihrem Wähleranteil entsprechen würde. Ein Großteil der Berichterstattung war zwar tatsächlich sehr kritisch gegenüber der SVP – aber das schadete ihr nicht laut dieser Untersuchung, sondern war sogar Wasser auf die Mühlen der SVP, da sie sich so als Opfer der Medien darstellen konnte: "Wir gegen alle". Und in der heutigen medial vermittelten Demokratie ist es offenbar weniger schlimm, kritisiert zu werden, als gar nicht wahrgenommen zu werden.

User the scripted reality möchte mehr über die Wahlmotive der Schweizer Bevölkerung erfahren:

Klaus Bonanomi: Die wirtschaftliche Lage ist in der Schweiz schlechter, als sie schon einmal war; insbesondere seit Anfang des Jahres, als die Nationalbank den Frankenkurs wieder freigab und der Franken deutlich teurer geworden ist, was die Exportindustrie und der Tourismus stark zu spüren bekommen. Es werden Stellen abgebaut und Arbeitszeiten verlängert; die Verunsicherung in der Bevölkerung ist groß, wenn auch die offizielle Arbeitslosenquote erst bei rund 3,5 Prozent liegt. Vor allem die Sozialdemokraten versuchten sehr stark, wirtschaftliche Themen, die Arbeitsplätze, die Verteilungsgerechtigkeit und die Löhne zu thematisieren; sie drangen aber nicht durch. In unsicheren Zeiten, so ein Erklärungsversuch, würden die Wähler lieber konservativ wählen, anstatt sich auf riskante Experimente einzulassen. Und dann ist zu erwähnen, dass viele Schweizer, ob zu Recht oder zu Unrecht, wegen der Zuwanderung Angst um ihren Arbeitsplatz haben; das war ja auch der Grund, weshalb im Februar 2014 die SVP-Initiative für eine strenge Zuwanderungsbegrenzung angenommen wurde.

Auf die Glaubwürdigkeit der Politiker zielt die Frage von User BobDuke ab:

Klaus Bonanomi: Natürlich ist vieles Show, und wer nicht auch einen Packen Eitelkeit mitbringt, sollte nicht in die Politik gehen. Vieles ist Inszenierung: Blocher als feingeistiger Kunstsammler, der seine Sammlung nun just eine Woche vor den Wahlen in einem renommierten Museum in Winterthur ausstellt; Köppel, der sich im Boxring einen verbalen Schlagabtausch mit dem Ex-Diplomaten Guldimann liefert – das ist für die Galerie, das spricht ein breites Publikum an und lenkt ab davon, dass viele der SVP-Lösungen, in der migrations- oder der Europafrage etwa, nicht umsetzbar und reine Scheinlösungen sind. Die Schweiz kann die Grenzen nicht einfach dichtmachen, weder für Flüchtlinge noch für Arbeitskräfte, weder aus humanitären und völkerrechtlichen Überlegungen noch in Bezug auf die EU, den wichtigsten Handelspartner der Schweiz; das wissen auch Blocher und Köppel. (Klaus Bonanomi, ugc 21.10.2015)