Richard Porter: "Eines der stärksten Dinge, die du haben kannst, ist Inhalt, der von Zuschauern empfohlen wird."

Foto: BBC World News

In der neuen Version der internationalen BBC News App stehen personalisierbare Nachrichten und Videos im Zentrum. Im Stream "My News" kann man Nachrichten individuell zusammenstellen. Was die Neuerungen für die BBC bedeuten und wie Inhalte aus der Community die Redaktionsarbeit verändern, erzählt Richard Porter, Leiter des redaktionellen und digitalen Angebots der internationalen BBC.

STANDARD: Seit dem Start der ersten BBC-News-App sind fünf Jahre vergangen. Was haben sie in der Zeit gelernt?

Porter: Seit dem letzten großen App-Update hat sich einiges geändert in der Welt um uns herum, vor allem in der Art, wie Menschen Nachrichten-Apps nutzen. Die größten Veränderungen aus unserer Sicht sind Personalisierung und Videos. Neben den Inhalten, die wir zur Verfügung stellen, macht es der "My News"-Stream möglich, nur Themen anzuzeigen, die das Publikum interessiert. Wir wissen auch, dass viele Nutzer aus den unterschiedlichsten Märkten auf der ganzen Welt Videos auf ihren Plattformen sehen und teilen wollen. Deswegen versuchen wir Videos zum zentralen Element der App zu machen.

STANDARD: Eine andere Neuerung ist die Live-Berichterstattung.

Porter: Ja. Wir haben eine Seite, wo ein Live-Stream kontinuierlich Meldungen ausspielt. Das ist eine große Entwicklung für uns, die wir gerade bei großen Geschichten oft einsetzen – zuletzt bei Griechenland. Die Nutzer haben die Wahl: Sie können eine kurze Zusammenfassung zum Thema lesen, ein Video ansehen oder den Live-Stream verfolgen.

STANDARD: Welche Erwartungen haben Sie an die neue Nachrichten-App?

Porter: Wir hoffen, dass die Interaktionszahlen steigen. Ich bin überzeugt, dass dies auch eintreten wird. Aber man muss vorsichtig sein und eine gewisse Zeit abwarten, um zu sehen, wie sich das Publikum verhält. Von den Videos erwarten wir uns jedenfalls höhere Zugriffszahlen. Was wir bemerkt haben, sind 1,5 Million Downloads seit der Veröffentlichung in der vergangenen Woche. Dazu muss man auch das automatische Update für bestehende Nutzer rechnen. Unsere Ambition ist es aber, viele neue Nutzer reinzubringen.

STANDARD: Welchen Ansatz verfolgen Sie im Bereich Video?

Porter: Das ist ein attraktiver Weg, um Journalismus zu machen. Die Videos, die wir online teilen, werden nicht immer so perfekt sein wie die aus den Fernsehnachrichten. Sie sind zum Teil nur ein Segment, ein Teil einer Geschichte. Wir experimentieren auch mit längeren Videos und investigativem, analytischem Inhalt. Zum Beispiel bei der Serie "White Horse Village", die sich um die Entwicklung einer Stadt in China dreht. Dazu haben wir online ein multimediales Projekt gestaltet, das aus Text, Video und Bildern besteht. Wir experimentieren damit, wie eine 45-minütige Dokumentation in der Onlinewelt aussehen kann. Da ist der Einsatz von Videos sehr wichtig, gerade weil sie auch geteilt werden können. Wenn man das richtig macht, bekommt man eine wirklich starke Leserschaft. Eines der stärksten Dinge, die du haben kannst, ist Inhalt, der von Zuschauern empfohlen wird – wie bei Facebook. Einer der wichtigsten Wege, um potentielle Nutzer zum Journalismus der BBC zu bekommen, ist über die Leserschaft, die Empfehlungen an ihre Freunde oder Kollegen abgibt.

STANDARD: Stichwort Community: Seit vergangenem Jahr gibt es mit dem "Outside Source TV" ein Format, bei dem sich Nutzer direkt in das Geschehen einbringen können. Warum dieses Format und welche Herausforderungen entstehen dadurch?

Porter: Ausgangspunkt war das Wissen, dass Menschen, die einen Nachrichtensender im Fernsehen sehen, auch Nachrichten von verschiedenen Kanälen beziehen und online aktiv sind. Sie erwarten, dass die BBC auch in dieser Welt besteht und reagiert. Wenn eine Nachricht aus einer anderen Quelle kommt – von einem Youtube-Video oder einem Twitter-Post –, haben wir ein Team, das diese Quelle verifiziert. Wir müssen da transparent sein und den Menschen erzählen, wer die Quellen sind. Egal ob auf der Webseite, der App oder sonst wo, der Nutzer wird immer wissen, woher die Quelle kommt.

STANDARD: Der Newsroom im Londoner Broadcasting House legt Fernseh-, Radio- und Onlineredaktion zusammen. Wie hat der Eingang von "User-generated content" die Strukturen verändert?

Porter: Wenn du in einem globalen Unternehmen, sei es ein Fernsehsender oder eine Nachrichtenseite, arbeitest, ist es üblich, dass Redakteure verschiedenster Plattformen Seite an Seite sitzen und eng zusammenarbeiten. Ein neuer Bereich ist der "User-generated content"-Hub. Dort werden die Quellen überprüft. Daneben arbeitet eine andere Gruppe an Übersetzungen für unterschiedliche Länder. Ein paar Tische weiter sitzen Mitarbeiter, die Inhalte nicht nur übersetzen, sondern in eine passende, sprachliche Form bringen. Üblich ist es, dass wir einen Inhalt haben und ihn in sieben verschiedene Sprachen simultan übersetzen. Das ist effizient und bedeutet auch, dass wir die ganze Palette des Journalismus ausnutzen können. Wenn nun zum Beispiel jemand im Iran oder Syrien Themen abdeckt, haben wir die Möglichkeit, seinen Journalismus für viele verschiedene Services sehr schnell produzieren zu können. In die Richtung machen wir immer mehr.

STANDARD: BBC legt viel Wert auf Authentizität. Vielerorts gibt es Journalisten, die zu Marken werden. Lässt sich dieser Trend auch bei der BBC beobachten?

Porter: Absolut! Zwar würden die Journalisten es selbst ablehnen, sich so zu bezeichnen, da der Begriff aus einer anderen Welt stammt als aus der, in der sie arbeiten, aber es gibt Korrespondenten, deren Namen so bekannt sind, dass sie aus unserer Sicht auch starke Repräsentanten der Werte der BBC sind. Hört man ihren Namen, assoziiert man das mit der BBC und versteht, wofür wir stehen. Ein gutes Beispiel ist unsere Chefkorrespondentin Lyse Doucet. Sie ist der internationalen Gemeinschaft nicht nur aus Fernsehen und Radio bekannt, sondern hat auch eine starke Onlinepräsenz. Ihr Name trägt Gewicht. Gestern war sie im Libanon und hat Malala zu ihrem 18. Geburtstag in ein Flüchtlingslager begleitet und online darüber berichtet.

STANDARD: Wie hoch ist die Bereitschaft der Redakteure, sich an die neuen Anforderungen anzupassen?

Porter: Lyse ist ein gutes Beispiel für einen erfolgreichen Wechsel. Ein anderes Beispiel ist unser Wirtschaftsredakteur Robert Peston, der zurzeit in Athen ist und an der Griechenland-Geschichte arbeitet. Online hat er darüber geschrieben, was in den vergangenen 24 Stunden passiert ist. Gleichzeitig habe ich ihn on air auf BBC World News gesehen, wo er eine Situationsanalyse abgegeben hat. Und ich bin ziemlich sicher, dass wenn ich die heimischen BBC News um 10 Uhr abends ansehe, wird er auch prominent vorkommen, dann in der traditionellen Fernsehform. Die Redakteure können auf unterschiedlichen Plattform erfolgreich agieren und mögen das auch. Wenn du Robert Peston bist und bereit bist, eine Analyse von Griechenland abzugeben, willst du nicht bis 10 Uhr abends warten, um die Geschichte zu erzählen. Du willst die Geschichte sofort erzählen, und nun haben wir die Mittel, das zu tun.

STANDARD: In Amerika gibt es den Trend zu seriösen Fernsehnachrichten mit satirischem Unterton. Können Sie sich das auch vorstellen bei manchen Geschichten

Porter: Wir haben ein TV-Programm namens "Have i got news for you". Das ist eine satirische Quizshow, dessen Grundlage die Nachrichten sind. Natürlich kennen wir den Erfolg von John Steward und John Oliver in den USA. Man liest recht häufig aus Studien, dass viele Menschen solche Programme als ihre Hauptnachrichtenquelle sehen. Das ist ein legitimer Ansatz. Innerhalb der BBC-Servicegruppe haben wir in diesem Bereich noch wenig gemacht, aber wir experimentieren damit. Kürzlich haben wir mit dem Format "What's up Africa?", ein Teil des Programms "Focus on Africa", einen satirischen Ansatz des Themas probiert. Wir müssen einfach ein bisschen experimentieren, um zu sehen, was erfolgreich ist, aber es ist definitiv ein Bereich, der interessant für uns ist.

STANDARD: Wo werden die Ideen für journalistische Experimente generiert?

Porter: Wir machen das auf verschiedene Arten. Manchmal setzen wir uns innerhalb der Redaktion zusammen. Manchmal hat ein Produzent eine Idee. Zusätzlich betreiben wir eine Abteilung namens "BBC Labs", die technologische Ideen entwickelt, wie man Inhalte leichter an die Leserschaft liefern kann. Wir wollen die Menschen, die hier arbeiten, ermutigen, Neues auszuprobieren. Die besten Innovationen entstehen in einer offenen Kultur.

STANDARD: Wie kann man trotz neuer Innovation seine Identität bewahren?

Porter: Das, was die BBC ausmacht, ist, dass wir bei unseren Grundwerten bleiben. Am Beispiel der satirischen Nachrichtensendungen: Ernsthaftigkeit ist für uns kein Wert – es geht darum sorgfältig, objektiv und fair zu sein, so gut es geht, die Wahrheit zu erzählen und dabei alle Sichtweisen einzubeziehen. Diese Grundwerte zu behalten ist das, was uns in der Nachrichtenredaktion vorantreibt. Journalismus muss ernsthaft sein, aber es gibt unterschiedliche Ausformungen, die für die Leserschaft interessant sein könnten.

STANDARD: 50 Prozent der Nutzer der BBC-App steigen über das Smartphone oder Tablet ein. Wie wichtig ist es, überall präsent zu sein?

Porter: Wir haben die Vermutung, dass die Nutzer, die uns über Smartphone oder Tablet besuchen, uns wahrscheinlich auch im Fernsehen oder auf einer anderen Plattform ansehen. Wir hoffen, dass die Menschen eine Verbindung mit der BBC haben und uns auf jeder Plattform erwarten, die sie benutzen. Du kannst nicht einfach nur an einem Ort präsent sein. Ich denke, das gilt für jedes erfolgreiche, effektive Medienunternehmen dieser Tage. Natürlich haben wir den Vorteil, dass wir eine starke Präsenz auf vielen Plattformen haben. Bisher sind wir für Fernsehen und Radio bekannt. In jüngster Zeit hat die Leserschaft verstanden, dass wir auch digital stark sind. Das ist natürlich eine ziemlich gute Position, die wir da haben.

STANDARD: Die Nutzer verwenden viele unterschiedliche Plattformen. Gibt es eine crossmediale Strategie, mit der man die Leser über die Kanäle begleiten kann?

Porter: Die Technologie wird das in Zukunft ermöglichen. Wenn du in Zukunft eine Geschichte auf dem Handy liest und dann zum Computer wechselst, kannst du dort weiterlesen, wo du aufgehört hast. Es muss dir aber bewusst sein, dass du, um diesen Service zu nutzen, dich bei den Nachrichtenunternehmen einschreiben musst. Du musst Informationen liefern, um diesen Service zu ermöglichen. Das ist ein interessanter Bereich, den wir uns gerade ansehen. Wir glauben aber nicht, dass wir die Menschen dazu bringen können, sich für die BBC einzuschreiben, um alle unsere Services zu nutzen. Das wäre einen Schritt weiter als bisher, und ich denke nicht, dass wir das verpflichtend machen würden.

STANDARD: Sie fahren eine erfolgreiche Social-Media-Strategie – auch dank mancher Kooperationen. Auf Facebook nutzen Sie seit kurzem "Instant Articles". Haben Sie das Gefühl, Sie geben damit Ihre Inhalte an Facebook ab?

Porter: Die Leserschaft erwartet von der BBC, dort zu sein, wo sie gerade ist. Wenn sie also auf Facebook ist, sollten auch wir dort auch präsent sein. Der Unterschied seit "Instant Articles" ist nun, dass die Nutzer in Facebook bleiben können, und wir sehen uns gerade an, wohin das führt. Viele der großen Nachrichtenunternehmen probieren das gerade aus. Wenn sich die Zielgruppe um eine spezielle Plattform schart, dann müssen wir sie dort finden – und das machen wir erfolgreich bei Facebook.

STANDARD: Auf der Suche nach dem Leser begibt man sich auf viele Plattformen. Beeinflusst das Verhalten der Leser die Nachrichten oder die Nachrichten die Leserschaft?

Porter: Es ist beides. Einer der Gründe, warum wir uns mehr auf Videos konzentrieren, ist, weil wir sehen, dass die Nutzung von Videos steigt. Es gibt hier definitiv eine steigende Nachfrage. Gleichzeitig können wir sehen, dass andere Nachrichtenseiten auch in diese Richtung drängen. Für die BBC mit ihrem Rundfunk-Background macht es keinen Sinn, da nicht an der Spitze zu stehen. Wir wollen den Nutzern zeigen, dass auch wir im Onlinevideobereich stark vertreten sind.

STANDARD: Wie unterscheidet sich die Zielgruppe der App innerhalb Großbritanniens zu dem Publikum, das international erreicht wird?

Porter: Es gibt natürlich Unterschiede, wer die BBC in Großbritannien und wer sie international konsumiert. International haben wir eine jüngere Zielgruppe als in Großbritannien. Wir glauben aber, dass es eine Möglichkeit gibt, über die Altersgrenze hinaus zu denken, was natürlich von Markt zu Markt unterschiedlich ist. Wir sehen starke Zugriffe von Menschen aus Westeuropa. Man könnte glauben, dass englischsprachige Seiten eine Barriere im Westen Europas sind, aber Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien sind starke Märkte für uns. Dabei neigen wir zu etablierten Märkten wie den Ihrigen und richten uns an eine kluge, gebildete Zielgruppe, die an globalen Themen über ihre Grenzen hinaus interessiert ist. Das umspannt alle Altersgruppen und soziale Kategorien.

STANDARD: Wo liegt die Zukunft von Nachrichten, und welche Herausforderungen stehen dort bevor?

Porter: Eine der größten Aufgaben für uns als Nachrichtenunternehmen ist, dass wir in Zukunft viele unterschiedliche Dinge tun müssen. Wir müssen die Nachrichten im Fernsehen und Radio fortsetzen und zusätzlich qualitative Apps, Webseiten und weiteres produzieren. Zudem gibt es einen großen Trend in Richtung Personalisierung, um relevante Inhalte für den Leser zu generieren. Wir müssen verstehen, wo der Leser ist, was ihn interessiert und was er von der BBC will, um dann den passenden Service anzubieten. Ich denke, man wird bald mehr Entwicklungen dieser Art sehen. (Claudia Tschabuschnig, 16.7.2015)