In den frühen Morgenstunden des 30. Juni ist das Europäische Parlament nach eineinhalb Jahren tapferen Widerstands dem industriepolitischen Druck von Europäischer Kommission und EU-Ministerrat erlegen. Im politischen Abtausch gegen ein gewisses Ende von Roaminggebühren im Mobilfunk wurde nachhaltigen Ausnahmen von der im Internet bisher üblichen "Netzneutralität" zugestimmt.

Damit wird das Wesen des offenen Internets langfristig verändert: Bislang herrschte Gleichheit bei der Datenübertragung auf internetbasierten Leitungen im Sinne des "Best effort"-Prinzips. Künftig wird jedoch verstärkt zwischen internetbasierten "specialised services" und der Restgruppe im Sinne des bisher bekannten "offenen Internets" unterschieden, wobei die Abgrenzung voraussichtlich vage bleiben wird.

Somit können Firmen, die als Internet Service Provider Kunden mit Internetzugang versorgen, gewisse eigene "Spezialdienste" wie etwa Film- und Musikdienste, Videokonferenzen, Navigationsdienste oder Ähnliches gegenüber allgemeinen Angeboten aus dem Internet bevorzugen. Netzzugangsanbieter, die bisher primär für die inhaltsunabhängige Datenübertragung zuständig waren, können ihre Marktmacht einfacher auf die Ebene internetbasierter Inhaltsdienste ausdehnen, da ihre Angebote Vorrang bei der Datenübertragung haben dürfen. Nur die Restbandbreite bleibt dem "offenen Internet".

Damit haben es auch die klassischen Internet-Start-ups schwieriger: Einerseits kann sie der Kunde von vornherein nur mit der nachrangigen, allgemeinen Internetpriorität erreichen. Andererseits kann der Netzzugangsanbieter dann, wenn sich dessen Geschäftsmodell als erfolgreich herausstellt, die Idee nachahmen und samt besserer Übertragungsqualität mitunter als verfeinerten "Spezialdienst" selbst anbieten.

Auch die derzeit praktizierte Variante, dass bei gewissen Mobilfunkangeboten ein bestimmter Musik- oder Videodienst großer internationaler Anbieter inkludiert ist ("zero rating"), ist nicht unbedingt "gut": Einerseits schränkt sie den gleichberechtigten Wettbewerb mit ähnlichen Angeboten anderer internetbasierter Anbieter ein, andererseits ist sie der Transparenz der Übertragungspreise abträglich.

Der Telekomsektor ist seit dem Aufbrechen der Monopole in den 1990er-Jahren intensiv staatlich reguliert, um über staatliche Eingriffe Wettbewerb zu simulieren. Aufgrund offenkundig verfehlter Regulierungspolitik sind vor allem im Festnetz signifikante Investitionen in den Ausbau von zukunftstauglichen Netzen ausgeblieben. Bisher ist dabei noch dazu der Kundenschutz auf der Strecke geblieben. Bei der "Breitbandmilliarde" zwecks Ausbau der Netze der großen privaten Telekomkonzerne wurde nicht sichergestellt, dass die dadurch entstehenden Kostenvorteile auch den Kunden zugutekommen.

Bei Kundenaspekten wird anders als auf Großhandelsebene ("Vorleistungsregulierung") regelmäßig auf die Kräfte des Wettbewerbs vertraut. Dieser funktioniert jedoch bei einem überschaubaren Oligopol großer Anbieter regelmäßig nicht so ganz. Man denke nur an die Preiserhöhungen um 30 Prozent im Mobilfunk zwischen 2013 und 2014. Der Mobilfunk wird von bloß drei großen mobilen Netzbetreibern erbracht, deren Interessen auch in Politik und Verwaltung besser gehört werden als die der Allgemeinheit.

Regulierung nötig

Es vermag daher nicht zu erstaunen, dass voraussichtlich auch die Netzneutralität künftig verfehlt geregelt wird. Das Internet ist von einem positiven Netzwerkeffekt geprägt, wonach es eigenleistungsunabhängig immer attraktiver wird, wenn neue Teilnehmer darüber erreichbar sind und neue, innovative Dienste darüber erbracht werden können. Dementsprechend müsste diese kostenlose Externalität bei einem am Gemeinwohl orientierten Gewährleistungsstaat der Allgemeinheit und der Volkswirtschaft über eine uneingeschränkte Netzneutralität gesichert werden. Stattdessen erlauben die europäischen Akteure künftig, dass die großen Betreiber diesen Wert "internalisieren", indem sie ihre eigenen "specialised services" bevorzugen dürfen. Ob diese Mehrgewinne jenseits der bisherigen Erträge primär dem Netzausbau und dem Kunden zugutekommen werden, ist zu bezweifeln.

Dass hochrangige Vertreter wie EU-Digitalkommissar Oettinger das Konzept der Netzneutralität offenkundig nicht verstehen können oder wollen und auch der nationale Infrastrukturminister Stöger sich "sehr zufrieden" mit dem aktuellen Kuhhandel zeigt, kann nur partiell erstaunen. Ebenso gut fügt sich in das Bild, dass die hiesige Regulierungsbehörde schon im Jahr 2013 unter Vorwegnahme der aktuellen Einigung ein entsprechend "löchriges" Positionspapier zur Netzneutralität präsentiert hat. Ihre Verordnungskompetenz nach Paragraf 17 Absatz 3 Telekommunikationsgesetz zum Schutz der Netzneutralität im Sinne der Allgemeinheit hat sie hingegen nicht wahrgenommen. Nun kann daher nur mehr die Stimme des Volkes den Spieß wieder umdrehen! In den USA ist das gelungen ... (Philipp Lust, 1.7.2015)