(An einem der Tische die 84-jährige Marianne, ihr Sohn Ralf, 53, und dessen Sohn Rolfi, sechs. Kaffeetassen und ein halbleeres Glas Apfelsaft.)

RALF (zu Rolfi, flüsternd): Jetzt.

(Rolfi steht auf, stellt sich vor Marianne und verneigt sich.)

MARIANNE (zu Ralf): Was will er denn?

RALF: Ein Muttertagsgedicht will er sagen.

MARIANNE: Aber seine Mutter ist ja gar nicht da.

RALF: Natürlich nicht. Tu bitte nicht so, als ob du nicht wüsstest, dass wir getrennt sind.

MARIANNE: Sie war zu jung für dich. Viel zu jung. Ich hab' das von Anfang an gesagt.

RALF: Kannst du jetzt bitte dem Rolfi zuhören?

MARIANNE: Ich hör's doch nicht. Furchtbar das. Früher hab' ich mich lustig gemacht über meine Schwiegermutter, und jetzt geht's mir genauso ...

RALF: Du wirst schon genug hören. (Zu Rolfi:) Laut, Rolfi.

ROLFI (verneigt sich. Laut): An die Mutter // Voll Eifer spinnt die halbe Nacht / die Mutter mein, die gute, / derweil sie meinen Schlaf bewacht / mit ihrer Haselrute.

RALF (zu Marianne): Verstehst du's?

MARIANNE: Kein Wort.

RALF (zu Rolfi): Noch einmal, Rolfi. Lauter.

ROLFI (brüllt): Voll Eifer spinnt die halbe Nacht / die Mutter mein, die gute, / derweil sie meinen Schlaf bewacht / mit ihrer Haselrute. // Dir, Mutter, bin ich anvertraut, / du bist mein bester Freumb, / ob's Nacht ist, ob der Morgen graut / oder die Sonne scheimb. (Verneigt sich.)

MARIANNE (applaudiert): Sehr schön, Rolfi. Nur den Schluss hab' ich nicht verstanden. Sagst du ihn noch einmal?

ROLFI (brüllt): Ob's Nacht ist, ob der Morgen graut / oder die Sonne scheimb.

MARIANNE (zu Ralf): Scheimb?

RALF: Scheint.

MARIANNE: Aber er sagt "scheimb".

RALF: Erstaunlich, wie gut du hörst.

MARIANNE: Sowas spür' ich, weißt du ... Du hast ja auch einen Sprachfehler gehabt als Kind ... "Liebes Münterlein", erinnerst du dich? (Lacht.)

RALF: Fang jetzt nicht damit an!

MARIANNE: Ist das eigentlich besser geworden?

RALF (genervt): Bitte, Mutter! Es ist weg! Falls es überhaupt jemals da war.

MARIANNE: Natürlich war's da. Aber wenn du sagst, es ist weg ... Wird's beim Rolfi sicher auch weggehn ... (Macht einen Schluck Kaffee.) Irritieren tut mich nur ... Du hast zwar kein Doppel-T sagen können, aber er ... Freumb, scheimb ... Das ist doch ganz anders ... (Zu sich:) Zu jung, viel zu jung ... (Halblaut, zu Ralf:) Bist du wirklich sicher, dass er von dir ist?

RALF (empört): Munter! Binte!

MARIANNE: Ah! Hast du mich wieder angelogen!

(Vorhang)

(Antonio Fian, 8.5.2015)