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Gedenken am Samstag am Place de la République in Paris.

Foto: REUTERS/Pascal Rossigno

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Vor der jüdischen Supermarkt in Paris, in dem am Freitag die Geiselnahme stattfand, versammelten sich zahlreiche Menschen mit Plakaten: "Ich bin Jude - Ich bin Charlie"

Foto: EPA/OLIVIER HOSLET

Nicht einmal das Café Les Deux Magots war am Samstagnachmittag voll besetzt: Selbst die Touristen, die sonst das Literatenviertel Saint-Germain-des-Prés überschwemmen, sind offenbar nicht zum Flanieren aufgelegt. In Paris herrscht gespannte und bedrückte Ruhe. In den Metrogängen zirkulieren Soldaten und werden Wachsamkeitsappelle ausgestrahlt. Immer wieder werden ganze Stationen und Plätze am Trocadéro gesperrt – am Samstag zum Glück stets wegen Fehlalarms.

Bilanz dieser schlimmsten Anschlagsserie Frankreichs seit 50 Jahren: 17 Menschen starben insgesamt bei dem Angriff der Kouachi-Brüder auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und bei der Geiselnahme auf den koscheren Supermarkt in Paris-Vincennes. Immerhin leistete die Polizei ganze Arbeit: Die Spezialeinheiten Raid und GIGN neutralisierten die drei Attentäter, ohne weitere Opfer zu verursachen.

Hilfreiche SMS

In beiden Fällen half ein Telefongerät. In der Druckerei in Dammartin (nordöstlich von Paris) konnte sich ein Angestellter im ersten Stock verborgen halten, während sich Chérif und Saïd Kouachi unten verschanzt hielten. Via SMS machte er der Polizei wertvolle Angaben zur genauen Stellung der Terroristen. Nur sie starben bei dem folgenden Feuergefecht.

Zur gleichen Zeit hielt der Weggefährte der Kouachis, Amedy Coulibay, in einem jüdischen Supermarkt Geiseln fest. Die Radiostation RTL rief aufs Geratewohl hin die Telefonnummer des Ladens an. Der Attentäter hob ab und legte gleich wieder auf – aber nicht richtig, sodass die Geiselnahme von außen mitzuverfolgen war. Nachdem er vier Kunden umgebracht hatte, erzählte Coulibaly den erschreckten Geiseln, er habe seine Tat mit den Kouachis "abgestimmt". Unter anderem räche er die "Millionen von toten Babys" im Irak in Folge des westlichen Embargos und Krieges. Das klang ganz wie die Lügenpropaganda, mit der Salafisten in Frankreich Banlieue-Kriminelle wie Coulibaly in den Jihad locken.

In Dammartin war es dem Rundfunksender BFM seinerseits gelungen, über eine normale Telefonnummer mit Chérif Kouachi zu sprechen. Er bekannte sich dabei zum jemenitischen Al-Kaida-Ableger. Dieser publizierte am Freitag auch ein Bekennerkommuniqué. Auch aus Polizeikreisen verlautete, Saïd Kouachi habe sich 2011 im Jemen aufgehalten.

Bessere Überwachungspraxis gefordert

Das führte auch zu Kritik am französischen Geheimdienst. Die Zeitung "Le Monde" unterstellt ihm "Kurzsichtigkeit". Die Überwachung der Kouachi-Brüder sei 2014 eingestellt worden, obwohl ihre Radikalisierung erwiesen war: Chérif hatte zusammen mit seiner Frau Hayat Boumeddiene auch einen Pionier der französischen Jihad-Bewegung, Djamel Beghal, besucht und dabei Schießunterricht erhalten. Der Starkriminologe Alain Bauer rief am Samstag zu einer besseren Überwachungspraxis auf – vor allem gegenüber Verurteilten, die nach ihrer Haft auf freien Fuß kämen und "deren Dossier mehrere Kilogramm wiegt". Damit wollte Bauer wohl andeuten, die Geheimdienste verlören sich in den Unterlagen zu all den potenziellen Terroristen in den endlosen Banlieue-Wüsten Frankreichs.

Sehr beruhigend klingt das nicht. "Die Bedrohung ist nicht ausgestanden", bestätigte Präsident François Hollande in einer TV-Ansprache, bevor er am Samstag eine neue Krisensitzung leitete. Premierminister Manuel Valls kündigte eine Verschärfung der Antiterror-Gesetzgebung an. Der konservative Abgeordnete Nicolas Dupont-Aignan verlangt gar die Ausrufung des Notrechts. Er verweist auf den Umstand, dass mehrere Gesinnungsgenossen der Kouachis frei herumliefen. Das gilt auch für Boubaker el-Hakim, der derzeit im Irak eine IS-Terrormiliz anführen soll. Seine mögliche Rückkehr nach Frankreich löse "absolute Angst" aus, meint "Le Figaro".

Beunruhigt zeigt sich vor allem auch die jüdische Gemeinschaft. Wegen der dramatischen Fahndung nach den "Charlie-Hebdo"-Attentätern ging der laut Hollande "abscheuliche antisemitische" Charakter der Geiselnahme im Supermarkt großteils unter. Der Pariser Großrabbiner Haïm Korsia meinte lakonisch: "Die Bedrohung, die über der jüdischen Gemeinde lag, war offenbar reell." Der Präsident des jüdischen Dachrates Crif, Roger Cukierman, erklärte, seine Mitglieder seien "bereits verängstigt" und hätten nun "zusätzliche Gründe, beunruhigt zu sein". An die 5.000 französische Juden dürften 2014 ihr Land Richtung Israel verlassen haben. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu forderte die Juden in Frankreich und ganz Europa am Samstag auf, nach Israel zu kommen.

Hunderttausende auf den Straßen

In vielen französischen Städten fanden am Samstag Trauermärsche für die Terroropfer und Solidaritätskundgebungen statt. Die Beteiligung war vielerorts beeindruckend – in Nantes ging zum Beispiel jeder vierte der 300 000 Einwohner auf die Straße. Das war aber nur das Vorspiel zu der zweifellos noch größeren Kundgebung in Paris am Sonntag. Erwartet werden ausnahmsweise auch der französische Präsident sowie die höchsten europäischen Regierungschefs wie Angela Merkel, David Cameron oder Matteo Renzi.

Die massive Mobilisierung zeigt, wie aufgerüttelt die Franzosen durch die Ereignisse dieser Woche sind. Auch wenn die von Hollande geforderte "nationale Einheit" nicht umfassend ist. Die Anwesenheit der Rechtsextremistin Marine Le Pen am Pariser Umzug war von linker Seite nicht erwünscht, während die konservative Partei UMP nichts dagegen einzuwenden hatte. Die Front-National-Chefin weicht deshalb in den Camargue-Ort Beaucaire aus, den ihre Partei regiert. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen distanzierte sich am Samstag ausdrücklich von der Kampagne "Je suis Charlie".

Hashtag "JesuisKouachi"

Auf Twitter zirkulierte vorübergehend auch der Hashtag "JesuisKouachi". Pariser Medien berichten, dass viele Mittelschüler in Banlieue-Zonen die Mohammed-Karikaturen genauso verurteilen wie die Ermordung der satirischen Zeichner. "Sie haben den Islam angegriffen. Wenn Charlie weitermacht, werden die Jugendlichen aufstehen", warnte ein Schüler in Le Monde.

In der gleichen Zeitung erschien am Samstag aber auch eine Anzeige, in der sich etwa 600 moslemische Bürger den "Killern" demonstrativ "entgegenstellen". Viel Verbreitung findet auch der Slogan "JesuisAhmed", benannt nach dem 42-jährigen Polizisten Ahmed Merabet, der bei der Charlie-Attacke von den Kouachis eiskalt erschossen worden war. (Stefan Brändle aus Paris, derStandard.at, 10.1.2015)