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Das Porträt von vier im Niger entführten Franzosen wurde im September 2013 in Paris aufgehängt. Kurz darauf kamen die Männer frei. Frankreich bestritt, Millionen an Lösegeld bezahlt zu haben.

Foto: AP / de la Mauviniere

Seit fast 50 Jahren geistert das Trolley-Problem durch Ethikkurse an Universitäten, nächtliche Kaffeehausgespräche und immer öfter durchs Internet. Das erstmals von Philippa Foot skizzierte Gedankenexperiment beschreibt eine außer Kontrolle geratene Straßenbahn (Trolley), die auf ein Gleis zurast, auf dem fünf Menschen angekettet sind. Mit einem Knopfdruck kann man den Zug auf ein Gleis umleiten, auf dem nur ein Mensch liegt. Soll man das tun?

In einer verschärften Variante besteht die Möglichkeit, einen besonders dicken Mann vor den Zug zu werfen, um ihn so zu stoppen.

Klassischer Utilitarismus – fünf Tote sind schlimmer als einer – stößt hier auf das Instrumentalisierungsverbot von Immanuel Kant, eine Grundlage des modernen Menschenrechtsbegriffs. Vor allem die „Fette-Mann-Option“ wird daher meist intuitiv abgelehnt – aber auch nicht immer ganz konsequent.

Wer glaubt, dies seien alles nur Gedankenspielereien, sollte die Zeitungen genauer lesen. Das Trolley-Problem tritt in verschiedener Form fast täglich auf. Bei zwei aktuellen Beispielen, die europäische Politik betreffen, ist es besonders akut: der Zahlung von Lösegeld an Geiselnehmer und der Rettung von Bootsflüchtlingen.

Freikauf von Staatsbürgern

Wie die "New York Times" berichtet hat, haben europäische Staaten – darunter Österreich – bis zu 90 Millionen Euro Lösegeld an nordafrikanische Islamisten wie Al-Qaida im Maghreb (AQIM) bezahlt, um entführte Staatsbürger freizukaufen. (Wenn der österreichische Außenamtssprecher ebenso wie andere europäische Regierungsvertreter dies bestreiten, so sagen sie im höheren Staatsinteresse die Unwahrheit.)

Damit konnten nicht nur Terrororganisationen ihr Einsätze finanzieren, mit denen sie in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens Tod und Elend verbreiten. Die Praxis bot auch einen massiven Anreiz zur Entführung von Bürgern genau jener Staaten, die sich erpressen lassen.

USA und Großbritannien zahlen nicht

Die USA und Großbritannien verweigerten konsequent die Zahlung von Lösegeldern – mit dem Resultat, dass zwar erst einzelne Geiseln getötet wurden, aber die Entführungen dann fast völlig aufhörten.

In diesem Fall haben meiner Meinung nach die Utilitaristen recht: Die Bezahlung von Lösegeld an Mörderbanden ist ein gravierender Fehler. Staaten hätten nie damit beginnen dürfen; und selbst jetzt ist noch Zeit, die Praxis einzustellen.

Es ist zwar hart, einem entführten Staatsbürger nicht mit allen möglichen Mitteln beizustehen. Doch wenn der Preis eines menschlichen Handelns neue Entführungen, Bürgerkrieg und die Vernichtung ganzer Staaten sind, dann wird Menschlichkeit zum Verbrechen.

Gerettete Bootsflüchtlinge

In einem anderen Drama ist die Spannung zwischen absoluter Moral und Kosten-Nutzen-Rechnung noch größer. Massen von Flüchtlingen aus Krisenstaaten wie Syrien, Somalia und Eritrea versuchen seit Jahren, von Nordafrika über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Sie zahlen tausende Euro an Schlepper, die seeuntüchtige Boote verwenden oder die Flüchtlinge sogar vor der Küste aussetzen – in der Erwartung, dass sie von der italienischen, spanischen oder maltesischen Küstenwache gerettet werden.

Die Menschen gehen dabei ein kalkuliertes Risiko ein, um dem Elend des Flüchtlingsleben nahe ihrer Heimatländer zu entkommen. Je größer die Wahrscheinlichkeit, heil auf EU-Gebiet zu gelangen, desto größer ist der Anreiz, die lebensgefährliche Reise auf sich zu nehmen. Jede Rettung verursacht daher letztlich neue Tragödien.

Utilitaristische Antwort

Wenn man davon ausgeht, dass die EU die Millionen, die gerne einreisen würden, nicht aufnehmen kann oder will, dann lautet die streng utilitaristische, aber auch unmenschliche Antwort auf das Problem: Flüchtlinge in Seenot dürfen nicht gerettet werden. Erst wenn die Chance auf Überleben so niedrig ist, dass es keinen Anreiz zur Überfahrt mehr gibt, wird der Flüchtlingsstrom versiegen.

Diese Überlegung war wohl eine Grundlage des Verbots der Rettung von Bootsflüchtlingen durch die frühere italienische Regierung unter Silvio Berlusconi. Dass diese Praxis als moralisch untragbar angesehen und von späteren Regierungen beendet wurde, ist nachvollziehbar.

Aber wer heute nach noch größeren Anstrengungen zur Rettung von Flüchtlingen ruft, der sollte sich zumindest des moralischen Dilemmas bewusst sein: Durch menschliches Vorgehen können Anreize gesetzt werden, die noch mehr Menschen gefährden. (Eric Frey, derStandard.at, 4.8.2014)