Auch das war Wien, und zwar Meidling, Ruckergasse: Migranten leben mit Kindern in erschreckenden Verhältnissen. Ein Dokument aus dem Jahr 1994.

Foto: Andy Urban

Wien - Eine Recherche in österreichischen Archiven zum Thema Gastarbeiter und Migration ist ein schwieriges Unterfangen. "In den staatlichen Archiven findet man erschreckend wenig zum Thema", sagt Dirk Rupnow, Zeithistoriker an der Universität Innsbruck. Er leitet seit 2012 das vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Projekt "Deprovincializing Contemporary Austrian History", das eine Initialzündung für eine neue österreichische Historie ab 1960 sein soll. Die Zuwanderungen von Gastarbeitern - ab 1962 aus Spanien, ab 1964 aus der Türkei, ab 1966 aus Jugoslawien - soll dann nicht mehr die bisher übliche Randnotiz, sondern ein zentraler Bestandteil der Geschichtsschreibung sein.

Die erste Erkenntnis des siebenköpfigen Forscherteams war: Im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) gibt es kein Archiv und daher auch kein historisches Material zu diesem Thema. Die Wirtschaftskammer hat einige Akten von der Gastarbeiter-Anwerbestelle in Istanbul auf Mikrofilm dokumentiert. Die Akten aus Spanien oder Jugoslawien sind vernichtet worden. Rupnow bezeichnet diese "Geschichtslosigkeit" als "dramatisch", zumal das Raab/Olah-Abkommen 1961, das die Zuwanderung erst ermöglichte, von den Sozialpartnern Gewerkschaft und Wirtschaftskammer geschlossen wurde.

Die Wissenschafter wollen aber ohnehin eine Multiperspektivität in die österreichische Geschichte hineintragen und über die offizielle, vom Staat erzählte Version hinausgehen. Dazu durchbrechen sie zunächst einmal die traditionellen nationalen Räume der Geschichtsschreibung. Diese Geschichte findet auch in jenen Orten in der Türkei statt, aus denen vielleicht die Hälfte der Männer zum Arbeiten nach Österreich gegangen ist. Die Forscher fragen daher auch: Was passiert in den Herkunftsländern, was passiert mit den Leuten, die dort bleiben?

Blaskapelle zur Begrüßung

Rupnow und sein Team wollen auch wissen, wie die Gastarbeiter selbst ihr Ankommen in Österreich erlebt haben. Erzählt werden Geschichten von Türken, die in österreichischen Betrieben von der Blasmusikkapelle begrüßt wurden und dabei wohl nicht ganz wussten, wie ihnen geschah. Rupnow: "Gastarbeiter wurden in streng abgezählten Kontingenten für bestimmte Branchen akzeptiert, weil man die Wirtschaft mit ihrer Arbeitskraft weiter brummen lassen wollte. Nach ihrer Arbeit sollten sie aber wieder gehen." Im Alltag habe man sich nicht mit ihnen auseinandersetzten wollen.

Dass dieser Plan langfristig nicht umsetzbar war, dürfte bald klar geworden sein. "Die Unternehmen weigerten sich, immer wieder neue Gastarbeiter anzuwerben und auszubilden. Das war ihnen zu unwirtschaftlich." Das war aber nur einer der Gründe, warum immer mehr Migranten blieben und im Laufe der Jahre auch ihre Familien holten.

Anfang der 1980er-Jahre kam es aufgrund des Militärputsches in der Türkei zu einer Flüchtlingswelle, Anfang der 1990er-Jahre waren die Jugoslawienkriege der Anlass für eine weitere Welle. Manche Migranten kamen aber auch aus ganz trivialen Gründen: Sie hatten sich verliebt. Rupnow erzählt, dass seit den 1980er-Jahren der Begriff "Ausländer" anstelle von "Gastarbeiter" gebraucht wurde. Damals sei es schon um "die lästigen, namenlosen Fremden" gegangen.

Die Geschichte der Arbeitsmigration ist also auch eine Geschichte der Anfeindungen und rassistischer Übergriffe. Bei Recherchen für ein Forschungsprojekt über Hall in Tirol haben die Historikerinnen Veronika Settele und Verena Sauermann Interviews mit Zeitzeugen geführt. Gastarbeiter wurden demnach in der Regel von allen Lokalen zurückgewiesen - eine Ausnahme war die Konditorei Kasenbacher. Hier wurden sie bewirtet und sogar türkische Abende veranstaltet. Eine Hallerin erzählte den Wissenschafterinnen, dass sie Anfang der 1970er-Jahre nicht bedient wurde, als sie mit ihrem türkischen Freund ein Lokal betrat. Rupnow betont, Hall sei "sicher kein Einzelfall" gewesen. "Es wäre auch naiv anzunehmen, dass all diese Menschen, die unsere Sprache nicht gut verstanden und einen anderen Glauben hatten, mit 'Schön, dass du da bist' begrüßt wurden." Eine der Aufgaben in seinem Forschungsprojekt wird die umfassende Aufarbeitung des alltäglichen und des institutionellen Rassismus sein.

In Hall machten die Forscher die Erfahrung: Eine Vielzahl an Österreichern, die in den 1960ern und 1970ern den Gastarbeiterzustrom erlebten, wollen nie rassistisch und auch nie Zeugen eines Vorfalls gewesen sein. Zahlreiche betroffene Migranten äußerten sich ebenfalls ablehnend gegenüber einer Aufarbeitung dieser rassistischen Übergriffe.

Zutrittsverbot

Die Historikerin Vida Bakondy, Mitarbeiterin beim FWF-Projekt Rupnows, hat andere Erfahrungen gemacht: Migrantinnen und Migranten würden sehr offen über Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus sprechen. Sie fand im Kreisky-Archiv Berichte und Akten über Wiener Lokale, die zeigen, dass Zutrittsverbote für Gastarbeiter auch in Wien zum Alltag gehörten. Der Schriftsteller und Journalist Hellmut Andics schrieb Anfang der 1970er-Jahre über einen Zwischenfall in einer Gaststätte im 1. Wiener Gemeindebezirk: Auf der Türe stand "Zutritt für Jugoslawen verboten!" Die Kellnerin warf einen Griechen hinaus, der sich nicht ausweisen konnte. Recherchen bezüglich der Biografie von Betroffenen seien sehr schwierig, sagt Bakondy. "Aber es lassen sich staatliche Strukturen der Diskriminierung nachzeichnen." Im Jahr 1965 etwa wollte das Bundesministerium für Inneres gemeinsam mit dem Landesarbeitsamt Steiermark erwirken, dass keine Arbeitsvisa an jugoslawische Roma erteilt werden. "Man diskutierte, wie man diese Gruppe bei der Botschaft in Belgrad erkennen könnte."

Es gibt auch Erfolgsstorys, die die Wissenschafter aufzeichnen werden. Sie handeln von Vereinsgründungen, von Widerstand gegen schlechte Wohnverhältnisse und in späteren Jahren von Unternehmensgründungen.

Die Geschichte der Arbeitsmigration ist aber vordergründig eine Geschichte der Versäumnisse. Bis heute gibt es kein zentrales Archiv der Migration: Zuletzt zeigte die Stadt Wien aber Bereitschaft, einen derartigen zeitgeschichtlichen Ort zu finanzieren. In Deutschland gibt es seit 1990 das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DMID). Rupnow: "Es wäre eine Anerkennung für Migranten in Österreich - und würde endlich die alltägliche Realität spiegeln, was die derzeitige Geschichtsschreibung nicht tut." (Peter Illetschko, DER STANDARD, 14.5.2014)