"Im Fernsehen wurde nicht über die nationalsozialistische Vergangenheit geschwiegen. Aber es wurden gewisse Geschichtsbilder bevorzugt." - Die Historikerin Renée Winter.

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Bilder aus dem Kontext des Holocaust wurden im ORF oft zur Bebilderung österreichischer Opfer eingesetzt. Das Foto zeigt junge Häftlinge im KZ Auschwitz nach der Befreiung durch die Rote Armee, Ende Januar 1945. Zwischen den Zäunen (wie in dieser Aufnahme) konnten sich die KZ-Häftlinge normalerweise nicht bewegen.

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Gerhard Bronner und Peter Wehle, Mitbegründer der legendären Ö1-Sendung "Der Gugelhupf". Bereits in den 1950er-Jahren gestalten die beiden ebenfalls für den ORF mit Helmut Qualtinger und anderen die politische Kabarettsendung "Spiegel vorm G'sicht".

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Helmut Qualtinger als "Herr Karl". Erstausstrahlung im ORF am 15. November 1961.

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Renée Winters Buch "Geschichtspolitiken und Fernsehen. Repräsentationen des Nationalsozialismus im frühen österreichischen TV (1955-1970)" ist soeben im Transcript-Verlag erschienen.

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STANDARD: Ihre Untersuchung setzt 1955 ein. Das Kriegsende liegt zehn Jahre zurück, der gerade gegründete ORF sendet wenige Stunden am Tag, kaum jemand besitzt ein TV-Gerät. Wie hat das Fernsehen damals die Geschichtsbilder der Menschen beeinflusst?

Winter: Fernsehdokumentationen zum Zweiten Weltkrieg waren von Anfang an ein sehr zentrales Thema im ORF. Ab 1960 begann der ORF, selbst Dokumentationen zum Nationalsozialismus zu produzieren. Die liefen durchaus im Hauptabendprogramm. Da waren auch Bilder aus Konzentrationslagern, Ermordete und Häftlinge zu sehen. Obwohl also vieles gezeigt wurde, waren bestimmte historische Narrative in Österreich lange Zeit nicht dominant - und sind es zum Teil bis heute nicht. Im Fernsehen wurde jedenfalls nicht über die nationalsozialistische Vergangenheit geschwiegen. Aber es wurden gewisse Geschichtsbilder bevorzugt.

STANDARD: Hatten die Eigenproduktionen des ORF eine einheitliche Stoßrichtung?

Renée Winter: Es kam darauf an, wer die Sendung machte. Den meisten Verantwortlichen ging es zentral darum, Österreichbewusstsein und Patriotismus zu fördern. Es galt damals als Aufgabe des Fernsehens, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu erziehen. Das war auch eine der Hauptfunktionen der Geschichtsdokumentationen zur österreichischen Vergangenheit.

STANDARD: Was verband die Dokumentationen?

Winter: Die Verfolgung und Ermordung von Juden und Jüdinnen wurde kaum verbal thematisiert. Man setzte eher auf Bilder. Das ist dem Fernsehen natürlich eigen. Doch sehr oft wurden Bilder aus dem Kontext des Holocaust oder der Judenverfolgung genommen und zur Bebilderung österreichischer Opfer eingesetzt. Österreicherinnen und Österreicher sollten primär als Opfer dargestellt werden, das war eine klare Strategie in diesen Sendungen. Das hatte Methode. In einer Sendung gab es eine implizite Gleichsetzung der Alliierten mit den Nazis: indem das Land als "dauernd besetzt" präsentiert wurde.

STANDARD: Wie wurden die Bilder aus den Konzentratioinslagern kommentiert?

Winter: Wenn Bilder aus dem KZ gezeigt wurden, etwa Bergen-Belsen nach der Befreiung, dann setzte oft der Kommentar aus. Man schwieg. Das kann man auf unterschiedliche Arten erklären. Es kann eine Form des Gedenkens sein, ist aber ein Nicht-Erklären. Gleichzeitig repräsentiert das Konzentrationslager in einem großkoalitionären Geschichtsbild den Ort der Versöhnung der beiden großen Parteien.

STANDARD: Wurde antifaschistischer Widerstand in den Sendungen thematisiert?

Winter: In vielen Produktionen war das ganz zentral. Das überrascht auf den ersten Blick, war aber eine grundlegende Legitimationsstrategie des österreichischen Staates nach dem Krieg. In der Moskauer Deklaration 1943 wurde darauf hingewiesen, dass die Behandlung Österreichs nach Kriegsende davon abhängt, wie groß der "eigene Beitrag zur Befreiung" ist. Dementsprechend hatte die Berufung auf den Widerstand, und es wurden meist nur bestimmte Gruppen genannt, auch eine nach außen gerichtete Rechtfertigungsfunktion. 

STANDARD: Welche Formen von Widerstand wurden konkret thematisiert?

Winter: Die Darstellung beschränkte sich großteils auf sozialistischen und christlich-sozialen Widerstand: Etwa die Gruppe O5 (die größte überparteiliche Widerstandsgruppe Österreichs gegen den Nationalsozialismus, Anm.) und den militärischen Widerstand um Karl Biedermann, Rudolf Raschke und Alfred Huth, die im April 1945 gehenkt wurden. Die meisten Sendungen präsentierten ein großkoalitionäres Geschichtsbild. Partisaninnen und Partisanen, kommunistischer oder jüdischer Widerstand kamen kaum vor.

STANDARD: Sie haben auch erforscht, wie die Handlungsmöglichkeiten von Tätern und Opfern im Nationalsozialismus dargestellt wurden. 

Winter: Die Frage, wer was tun konnte, wurde in den Sendungen meist ausgeblendet. Sowohl durch die Auswahl bestimmter Bilder als auch in den Erzählungen. Handlungsmacht wurde entweder auf andere Staaten verschoben oder personalisiert und nur einigen wenigen hohen Nazis, meist Hitler oder Goebbels, zugeschrieben. Diese Stragegie führte einerseits zu einer "Viktimisierung" und der Rede von passiven Opfern und andererseits zu einem Abschieben der Verantwortung des Einzelnen im Nationalsozialismus.

STANDARD: Wie thematisierte das politische Kabarett damals im ORF die Rolle Österreichs im Nationalsozialismus?

Winter: Da war auf einmal ganz viel sagbar, was in den Geschichtsdokumentationen nicht vorkam. Etwa in den Programmen von Gerhard Bronner und Peter Wehle, und natürlich im "Herrn Karl" von Helmut Qualtinger und Carl Merz ab 1961. Diese Sendungen waren extra für den ORF produziert. Hier wird sehr explizit Antisemitismus thematisiert und die in Österreich üblichen NS-Verbrechensprozesse, in denen die Angeklagten dauernd freikamen. Der Fall Borodajkewycz (der nationalsozialistische Historiker Taras Borodajkewycz unterrichtete bis zu seiner Zwangspensionierung 1966 als Professor an der Hochschule für Welthandel in Wien, Anm.) wurde erstmalig in einer Sendung von Bronner und Wehle skandalisiert. Die beiden hatten Originalzitate von ihm verwendet. Borodajkewycz hat die beiden geklagt, die Klage aber später zurückgezogen. Der damalige Fernsehdirektor Gerhard Freund stand hinter Bronner und Wehle.

STANDARD: Schummelte sich der ORF um die explizite Analyse österreichischer Zustände herum, indem er sie dem Kabarett überließ?

Winter: Im Kabarett und in den fiktionalen Formaten war sicher mehr Kritik möglich. Es gab beispielsweise ein Fernsehspiel über die Ermordung von Engelbert Dollfuß. Da wurden österreichische Antisemiten gezeigt und Opportunisten, die zwischen illegaler NSDAP und Vaterländischer Front wechselten. In den offiziellen ORF-Dokumentationen kam so etwas nicht vor. Denen ging es darum, Österreichpatriotismus zu fördern. Es war Strategie, über etwas zu sprechen und es zugleich auszuklammern: Indem man etwa über die ermordeten Juden und Jüdinnen sprach – sie zugleich aber unter "alle Toten des Krieges" zusammenfasste.

STANDARD: Arbeitete der ORF für seine Dokumentationen mit Forschungseinrichtungen zusammen?

Winter: Der ORF kooperierte auf vielen Ebenen mit dem Institut für Zeitgeschichte, das 1961 zunächst außeruniversitär und 1966 als Universitätsinstitut gegründet wurde. Es wurde damals von Ludwig Jedlicka geleitet, der sich vor dem Zweiten Weltkrieg politisch zwischen illegaler HJ und NSDAP und Vaterländischer Front bewegt hatte und danach Mitglied des Cartellverbandes und der ÖVP wurde. Das Institut und der ORF konnten sich über diese Kooperation gegenseitig viel Legitimation zusprechen.

STANDARD: Außeruniversitär wurde 1963 auch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands gegründet. Kooperierte der ORF auch mit dem DÖW?

Winter: Es gab eine einzige Sendung mit dem DÖW, gesendet im Jahr 1964. Sie unterschied sich in der Machart von den damals im ORF üblichen Dokumentationen: Die ganze Sendung bestand aus Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die jeweils fünf Minuten sprachen. Die Dokumentation wurde getragen von deren Erzählungen. Da kamen Leute aus dem kommunistischen Widerstand, ein Auschwitzüberlebender und die Historikerin Erika Weinzierl. Nach dieser Sendung hat der ORF im von mir untersuchten Zeitraum nicht mehr mit dem DÖW zusammengearbeitet. Warum das so war? Dazu habe ich keine Quellen gefunden. Es dürfte auch eine politische Entscheidung gewesen sein.

STANDARD: Das DÖW wurde damals von Herbert Steiner geleitet; einem jüdischen Kommunisten, der verfolgt wurde, ins Exil ging und nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrte.

Winter: Ja. In einer von mir untersuchten Korrespondenz hat Herbert Steiner nach der Sendung 1964 Vorschläge für weitere Dokumentationen gemacht. Es sind jedoch keine Antwortbriefe erhalten. Die Sendung mit dem DÖW war übrigens die einzige von mir untersuchte, in der Frauen als Zeitzeuginnen und Expertinnen geladen waren.

STANDARD: Wie stand es denn um die Rolle der Frauen? Welche Geschlechterbilder wurden sonst in den Dokumentationen produziert?

Winter: Um das Verführungspotenzial des Nationalsozialismus zu illustrieren wurde gerne auf sexualisierte oder weibliche Darstellungen zurückgegriffen. Und auf die Bilder jubelnder Frauen, die feminisierte Masse, die Hitler feiert. Womit bevorzugte Geschlechterbilder des Nationalsozialismus übernommen wurden. Anders wird das Kriegsende dargestellt: Es gibt Filmmaterial, das zeigt, wie die Menschen im April 1945 vor dem Parlament tanzen. Viele Paare werden von zwei Frauen gebildet – die Männer waren noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Die Bilder der tanzenden Frauen wurden gegengeschnitten mit Heteropaaren, um eine Rückkehr zu Ehe und Familie zu versprechen. So wurde das Ende des Krieges wurde auch als Wiederherstellung der guten, intakten Familie gezeigt. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 2.4.2014)