Angeblich besteht Sinan aus 1.004 Inseln. Tatsächlich dürften es um einige weniger sein.

Foto: Alexander Reisenbichler

Hektik gibt es auf den Inseln keine. Sogar die Busse haben hier Verspätung: Südkorea wie vor 30 Jahren.

Bilder von der Reise in den Südwesten gibt es in dieser Ansichtssache.

Foto: Alexander Reisenbichler

Die Inselwelt Südkoreas im Südwesten des Landes besitzt eine ganz eigene Atmosphäre, die mich in ihren Bann gezogen hat. Mitte Juni, zu Beginn der Regenzeit, packten mein Freund Teju und ich unser Zelt ein und fuhren mit dem Auto nach Mokpo, um den Inseldistrikt Sinan zu besuchen, der aus 1.004 Inseln bestehen soll. Doch diese Annahme (laut Statistik gibt es 111 bewohnte und 719 unbewohnte Inseln) leitet sich von dem koreanischen Wort für 'Engel' ab, das auf Koreanisch Cheon-sa heißt - und eben auch 1004. 

Christen, Verbannte und gelangweilte Ärzte

Die koreanische Schreibweise und Betonung dieser beiden Wörter sind gleich, nur die chinesischen Schriftzeichen sind unterschiedlich. Westliche Missionare waren auf diesen Inseln besonders erfolgreich und die Inselbewohner sind mehrheitlich Christen. Das erklärt den Beinamen Engel. Lebten hier noch in den 1960er-Jahren 160.000 Menschen, sind es heute nur noch etwas mehr als 30.000. In der Choseondynastie (1392-1910) wurden viele unliebsame politische Gegner auf die sehr abgelegene Insel Heuksando (auf der Karte ganz links) verbannt, das heute ein beliebtes Touristenziel ist. Die Inseln nahe der Küste sind touristisch noch nicht sehr erschlossen, es gibt z.B. kaum Brücken, die das Festland mit den Inseln verbinden. Jedoch sind einige Inseln untereinander mit Brücken verbunden. Krankenhäuser gibt es keine, aber medizinische Versorgungszentren, in denen koreanische Ärzte, statt beim Militär zu dienen, drei Jahre lang ein einsames Praktikum ableisten. Auf einer anderen Reise nach Sinan vor ein paar Jahren verbrachte ich drei Tage mit solchen einsamen Ärzten, die ihre Lage folgendermaßen auf den Punkt brachten: "Keine Frauen unter 40, keine Bars und das einzige Gasthaus liegt auf der Nachbarinsel! Uns ist stinklangweilig!"

In Mokpo, der größten Hafenstadt im wilden Südwesten, parkten wir das Auto in der Nähe des Hafens und fuhren mit einer Fähre nach Palgeumdo. Ein netter Gasflaschenlieferant, der uns am Hafen ansprach, brachte uns mit seinem Kleinlaster zu einem Strand, wo wir unser Zelt aufstellten. Nach dem Abendessen, ein scharfes Fertignudelgericht (Lamyeon), schlüpften wir in unsere Schlafsäcke, doch gegen Mitternacht riss uns in das Zelt einströmendes Wasser aus dem Schlaf. Wir beschlossen unsere Sachen zu packen und unser Zelt in einer leeren Garage, die wir auf unserem Abendspaziergang bemerkt haben, wieder aufzustellen.

Am nächsten Tag regnete es noch immer als wir autostoppend auf der Straße nach Dochodo standen. Als nach einer Stunde nur ein Auto vorbeikam, das uns nicht mitgenommen hat, riefen wir ein Taxi. Der Fahrer verschaffte uns freundlicherweise am Hafen eine billige Unterkunft. 15 Euro für ein trockenes Zimmer, in dem wir unsere nassen Kleider trocknen konnten, kam uns nach der vergangenen Nacht wie das Paradies auf Erden vor. Am nächsten Tag hatten sich die Wolken verzogen und wir starteten unsere erste Inselerkundungstour. Die Insel wies einige kleine Hügelketten auf, war aber ansonsten eher flach. An der Küste kamen wir an Salzfeldern vorbei, wo durch Verdunstung Salz aus Meerwasser gewonnen wird. Wir steuerten auf ein Dorf in einem kleinen Tal zu. Ein paar hundert Meter vor dem Dorfeingang sahen wir einen steinernen Dorfwächter (Dol-jang-seung). Die Geschichte dieses stummen Wächters entnahmen wir einem Informationsschild: 1946 wurde dieser steinerne Wächter, der sich zuvor in der Mitte des Dorfs befunden hat, als Gegenkraft hier an diesen Platz verlegt, um den Energiefluss des Dorfs wiederherzustellen, der durch einen großen Felsen, der am anderen Ende des Tals liegt, unterbrochen wurde. Dieser Wächter hatte am Kinn viele kleine Löcher, in die Stroh gesteckt wurde, um ihm einen Bart zu verleihen.

Wieder auf der Hauptstraße, sahen wir ein Ehepaar an einer Bushaltestelle sitzen. Auf die Frage wann der Bus denn kommen würde, meinten sie, das könne man nicht so genau sagen, manchmal würde der Bus auch überhaupt nicht kommen. Das habe ich in Südkorea noch nie erlebt! Sogar am Land fahren die Busse sonst sehr pünktlich, in der Stadt werden die Wartenden schon unruhig wenn die U-Bahn eine halbe Minute Verspätung hat. Sinan ist wirklich einmalig! Am Hafen, wo sich das Zentrum der Insel befindet, meinte Teju: "So hat Südkorea vor 30 Jahren ausgesehen!" Geschäfte mit hölzernen Schiebetüren und kleine Gasthäuser, in denen die Speisekarte (fünf Gerichte) mit blauer Kreide an die weiße Wand gekritzelt war.

Ein Paradies auf der Kuhorhrinsel

Am Nachmittag fuhren wir mit dem Boot auf die Insel Uido (Kuhohrinsel). Auf dem Weg dorthin sahen wir koreanische Delfine, die nur in dieser Gegend leben und statt einer spitzen eine abgerundete Nase haben. Zum ersten Mal auf dieser Reise sahen wir das offene Meer. Da die Inseln in Sinan sehr dicht aneinander liegen, nimmt man das Meer eher als breiten Fluss wahr. Da an dem Tag zum ersten Mal die Sonne schien, war unsere Stimmung dementsprechend gut. Auf einer Anhöhe, 50 Meter vom Meer entfernt schlugen wir unser Zelt neben einer Sanddüne auf, fingen ein paar Krabben und kochten sie zusammen mit unserem Fertignudelgericht. Die Krabben schmeckten scheußlich, der Naturschutzparkwächter klärte uns später auf, dass man diese Krabbenart nicht essen könne. Als wir die gekochten Krabben wegwarfen, taten sie uns wirklich leid. Der uniformierte Parkwächter wies uns noch darauf hin, dass man in einem Nationalpark weder ein Zelt aufschlagen, noch im Freien kochen dürfe. Aber da ich Ausländer wäre und die Regeln nicht kennen würde, durften wir bleiben. Teju meinte: "Ich reise wirklich gerne mit dir, wärst du kein Ausländer, müssten wir das Zelt abbauen."

Am nächsten Tag erkundeten wir die Insel, in deren Mitte sich malerisch ein, von Bergen eingeschlossenes, grünes Tal vor uns auftat. Die Wege waren überwuchert und es wimmelte von Schlangen. An den Berghängen des wenige hundert Meter hohen Berges lebten wilde Ziegen, die laut Auskunft eines Inselbewohners frei herum liefen und keinen Besitzer hätten. Von der Bergspitze hatten wir eine wunderbare Aussicht, das Meer war von weißem Nebel überdeckt und man konnte nur die Inselspitzen sehen, die märchenhaft das Weiß des Nebels durchbohrten.

Krabbelndes Mittagessen

Nach drei wunderbar verbrachten Tagen auf der Kuhohrinsel, an denen wir außer ein paar Inselbewohnern und dem Parkwächter (auf der ganzen Insel sahen wir ungefähr 30 Häuser) niemanden getroffen haben, fuhren wir mit dem Schiff zurück nach Mokpo. Zum Abschluss unserer Reise gönnten, wir uns eine lokale Spezialität: "san-nak-ji". Das ist roher - oder besser - lebender Oktopus. Der Oktopus wird mit einer Schere mehrere Male durchschnitten und mit Chilisauce gegessen. Ich schaue auf meinen Teller und sehe wie sich mein Mittagessen noch immer bewegt. "In Haenam," erzählt Teju, "essen die Leute kleine Oktopusse roh, ohne sie zu zerschneiden, doch muss man ordentlich kauen, sonst setzten sie sich in der Luftröhre fest und man bekommt keine Luft." Dieses Problem stellt sich hier nicht, aber wenn man den Oktopus nicht richtig zerschneidet, kriecht er vom Teller. (Alexander Reisenbichler, derStandard.at, 25.2.2014)