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Sinnbild für die Präsenz der Geschichte: Büsten des wegen seiner Vertreibungsdekrete umstrittenen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes. Eine Installation des in Wien lebenden tschechischen Künstlers Abbé Libansky 2002 bei Fratres.

foto: apa/FRIEDEMANN DERSCHMIDT

Niklas Perzi: nach Euphorie Ernüchterung.

Foto: Gerald Schubert

Mit dem österreichischen Historiker und Mitherausgeber Niklas Perzi sprach Gerald Schubert anlässlich der Präsentation in Prag.

STANDARD: Am Freitag tritt der neue tschechische Präsident Milos Zeman sein Amt an. Im Wahlkampf gegen Karl Schwarzenberg war die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Thema. Hat Sie das überrascht?

Perzi: Eigentlich schon. Bei uns spielt diese Frage heute ja fast keine Rolle mehr. Aber man sieht, dass die Debatte dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört, und zwar nach Tschechien. Es handelt sich um eine Diskussion über Angehörige zweier Nationalitäten, die gemeinsam einen Staat bewohnt haben, und weniger um einen Konflikt zwischen Tschechien und Österreich oder Tschechien und Deutschland.

STANDARD: Die Qualität der Beziehungen zwischen Österreichern und Tschechen ist strittig. Optimisten weisen auf gemeinsame Projekte hin, auf die Kooperation von Feuerwehren, auf gemischte Stammtische in den Dörfern. Andere meinen, dass die Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs inzwischen längst abgekühlt ist.

Perzi: Es ist eine gewisse Normalität eingekehrt. Man kann die Euphorie, die es Anfang der 1990er- Jahre auf beiden Seiten gab, nicht über zwei Jahrzehnte aufrechterhalten. Nach dem Rausch der Begeisterung muss irgendwann Ernüchterung einkehren. Es fehlt allerdings die mediale Vermittlung der Nachbarregionen. Man weiß nichts von dem, was unmittelbar auf der anderen Seite der Grenze passiert. Hier wären vor allem lokale Medien gefordert.

STANDARD: Das Buch "So nah, so fern", das Sie konzipiert haben, will diese Jahre anschaulich machen. Was war die Grundidee?

Perzi: Als Team von österreichischen und tschechischen Wissenschaftern wollten wir einen Systemvergleich anstellen. Allerdings nicht auf nationaler Ebene, sondern auf Ebene der alltäglichen Lebenswelten im Grenzgebiet. Dazu haben wir schriftliche Quellen aus Gemeinde-, Schul- und Firmenarchiven ausgewertet, Fotos gesichtet und lebensgeschichtliche Interviews geführt. Wir wollten wissen, wie sich das Leben in den Ortschaften abgespielt hat, wie die Beziehungen der Menschen untereinander waren, wie tief die Politik in den Alltag eindrang. Ein Beispiel ist die Abwanderung aus den Dörfern.

STANDARD: Zu welchen Ergebnissen sind Sie da gekommen?

Perzi: In Österreich hing die Abwanderung mit dem Wegbrechen der traditionellen Textilindustrie in den 1970er- und 1980er-Jahren zusammen und mit der Modernisierung der Landwirtschaft, die sich immer mehr auf die Kernfamilie beschränkte. Gesinde und Knechte wurden durch Traktor und Mähdrescher ersetzt, die Leute wanderten nach Wien und in andere Ballungszentren ab. In der Tschechoslowakei kam es zur Kollektivierung der Landwirtschaft, zur Bildung der großen Staatsgüter. Die privaten Bauernhöfe verloren ihre Funktion. Auch hier wanderten die Menschen aus den Dörfern ab - allerdings nur bis in die nächste größere Gemeinde, wo das örtliche Staatsgut gegründet und Wohnraum für die neuen Landarbeiter geschaffen wurde.

STANDARD: 1968 gab es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Reformbewegungen. Wo gibt es Ähnlichkeiten und wo Unterschiede?

Perzi: In den 1960ern kam der klassische Industriestaat hier wie dort in eine tiefe Krise. Folglich wurden Reformideen entwickelt, sowohl von oben als auch von unten, also auch von Intellektuellen, Künstlern, Studenten, die 1968 in beiden Ländern eine zentrale Rolle spielten. In der Tschechoslowakei ging diese Reform aber eher nach rechts, hin zur Einführung marktwirtschaftlicher Elemente, während in Österreich die Reise bekanntlich nach links ging.

STANDARD: Ähnliches kann man auch heute beobachten. Junge, liberale Tschechen mit einer gewissen Nähe zu alternativen Lebensentwürfen haben im Präsidentschaftswahlkampf mehrheitlich den konservativen Schwarzenberg unterstützt.

Perzi: Ich erlebe das auch in der Grenzregion. So wie das nördliche Waldviertel ist auch Südböhmen mittlerweile zum Rückzugsgebiet für Intellektuelle und Künstler geworden. Doch wenn ein Österreicher ein Künstlercafé auf der tschechischen Seite betritt, wird er sich im Gespräch mit den Gästen vermutlich wundern. Es herrscht dort zwar eine ähnliche Lebenswelt, aber eine völlig andere politische Orientierung.

STANDARD: Versetzen wir uns nochmals zurück in die Grenzgasthäuser der 1970er-Jahre. Sie haben eine Frage an die Stammgäste frei. Welche würden Sie stellen?

Perzi: Ich würde fragen, wo eigentlich die Frauen sind. Im Wirtshaus saßen nämlich nur die Männer. Hüben wie drüben. (Gerald Schubert, Crossover, DER STANDARD, 5.3.2013)