Laut dem Juristen Bernd-Christian Funk ist Österreich noch immer eine besonders autoritätsgläubige Gesellschaft.

Illustration: Fatih Aydogdu

Ein Schüler, der wegen Ungehorsams einen "Klaps" vom Schuldirektor bekommt. Ein Häftling, der nach einer Amtshandlung von Aufsehern im Rollstuhl sitzt. Ein Asylwerber, der bei der Abschiebung durch die "Behandlung" der beteiligten Beamten zu Tode kommt. Drei sehr unterschiedliche Fälle von Exzessen staatlicher oder offizieller Gewaltanwendung, die in den vergangenen Jahren in Österreich stattgefunden haben. Wo Staatsgewalt ist, ist immer auch das Potenzial der Übertretung da, ist Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk überzeugt.

Ambivalente Staatsgewalt

Ein Jahr lang sammelte er gemeinsam mit Katharina Rueprecht für ein Buch* Fälle, in denen der Rechtsstaat einem seiner Bürger Gewalt antat. "Eine Rechtsordnung braucht das staatliche Gewaltmonopol", erklärt Funk im Gespräch mit dem STANDARD (die Langfassung lesen Sie hier, Anm.). "Auf der anderen Seite kann genau diese monopolisierte Staatsgewalt zu einer schweren Bedrohung für bürgerliche Freiheiten und Grundrechte werden." Entscheidend sei, wie der Staat Verstöße gegen das Gewaltmonopol ahnde und ob Gesetzeslücken nach Anlassfällen auch geschlossen würden.

Der Fall Omofuma

Funk nennt etwa den Fall Marcus Omofuma als Beispiel für "ein Restelement einer mit Polizeistaat-Facetten versehenen Denkweise". Bei der Abschiebung, die mit dem Tod Omofumas endete, hätten Staatsorgane darauf beharrt, dass von "oben" angeordnetes Recht durchgesetzt werden müsse - koste es, was es wolle. Funks Diagnose: "Wir sind immer noch eine besonders autoritätsgläubige Gesellschaft. Vor kurzem hat ein hochrangiger Landespolitiker, der für Bildungsfragen zuständig ist, gemeint, eine kleine Ohrfeige wäre für Kinder kein Nachteil. Da müsste es einen Aufschrei geben. Anderswo wäre der Betreffende als Regierungsmitglied eines Landes wohl nicht mehr tragbar."

Autoritäre Systeme erwünscht

Österreich, ein Land, in dem bei vielen die Sehnsucht nach einer Autorität schlummert, die auch mal fester zupackt? Da passt es nur zu gut, dass der Stratosphären-Springer Felix Baumgartner kürzlich in einem Interview seinem Wunsch nach einer "gemäßigten Diktatur" Ausdruck verlieh. Die Aufregung über die Aussage war groß - dabei dürfte Baumgartner ausgesprochen haben, was viele Österreicher denken. Das lässt sich mit Studienergebnissen belegen. In der 2008 zuletzt durchgeführten Wertewandel-Studie, die regelmäßig die Einstellungen europäischer Bürger abfragt, wünschte sich ein Fünftel der Befragten in Österreich einen "starken Führer".

Was aber hat Autoritätsgläubigkeit mit Gewalt zu tun? In einem autoritären, nicht hinterfragten Machtgefüge werden Einzelpersonen leichter zu Tätern. Welche Art von Gewalt in einer Gesellschaft "erlaubt" ist, ändert sich im Lauf der Zeit. Wer könnte sich heute noch vorstellen, dass es bis 1977 in Österreich keine spezifische Regelung gab, die Gewalt in der Familie unter Strafe stellte.

Weiße Flecken auf der Landkarte des Rechtsstaats

Die frühere Richterpräsidentin Barbara Helige sagte vor einigen Wochen in einem STANDARD-Interview anlässlich der Missbrauchsfälle in Kinderheimen der 1970er-Jahre, die heute unglaublich erscheinen: "Ich frage mich manchmal, ob wir jetzt auch blinde Flecken haben, Missstände nicht sehen wollen." Funk dazu: "Alle Bereiche, in denen Menschen in ihren Freiräumen beschränkt sind und in besonderen Gewaltverhältnissen leben - Pflegeheime, geschlossene Anstalten, Jugendheime, Schulen -, überall dort muss man mit Fehlentwicklungen rechnen." Auf lange Sicht werde man sich mit diesen Problemen auseinandersetzen müssen. "Wir haben hier weiße Flecken auf der Landkarte des Rechtsstaats." (Anita Zielina, Maria Sterkl, DER STANDARD, 17./18.11.2012)