"Ich war ein Wasagassler. Ich bin 1934 bis 1938 in die B-Klasse des Wasa-Gymnasiums gegangen, in die separate Judenklasse. Juden und Christen durften seit 1934 nicht mehr in die gleiche Klasse gehen."

Foto: Paul Zsolnay Verlag/L. Hilzensauer

"Über Nacht waren wir vogelfrei. Bis zum 11. März hatten wir trotz Austrofaschismus eine wunderschöne Jugend gehabt. Plötzlich war alles vorbei."

Foto: Paul Zsolnay Verlag/L. Hilzensauer

Café Roth: 50 Meter von seiner ehemaligen Schule in der Wasagasse in Wien entfernt sitzt Ari Rath unter den Arkaden des Hotels Regina. Der ehemalige Chefredakteur der "Jerusalem Post" bestellt bei der Kellnerin "eine heiße Schokolade für den Bub". In der nahe gelegenen Porzellangasse ist er aufgewachsen, 1938 floh er mit dem ersten Kindertransport nach Palästina. Warum mit seiner Flucht seine Kindheit zu Ende war, welche Lehrer sein Leben mitgestaltet haben und warum er viele Jahre nicht mehr Deutsch sprechen wollte, erzählt er im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in Wien?

Rath: Ich bin in der Schubertschule in die Volksschule gegangen. Meine Lehrerin Marie Blesson war für uns alle und besonders für mich eine Mutterfigur, weil meine Mutter gestorben ist, als ich vier Jahre alt war. Marie Blesson hatte eine tolle Ausstrahlung. Wir waren eine reine Bubenklasse.

Besonders prägend war für mich der Musikunterricht. Wir hatten zweimal in der Woche Musik, viele Liedtexte sind mir bis heute noch im Gedächtnis, als ob es gestern war. Am besten kann ich mich an traurige Lieder erinnern, wahrscheinlich habe ich sie wegen des Verlustes meiner Mutter gemocht. Ich war zwar ein sehr lebensfrohes Kind, aber gleichzeitig auch traurig.

derStandard.at: Nach welchen Methoden wurde unterrichtet?

Rath: Marie Blesson hat teilweise nach der Pestalozzi-Methode unterrichtet und Spiele in den Unterricht eingebaut. Sie hat sich sehr gründlich mit der Persönlichkeit und mit dem Schicksal der Schüler auseinandergesetzt. Zweimal im Jahr musste sie Bewertungsbögen ausfüllen, wo sie und mein Vater über vier Jahre die intimsten Fragen über "das Kind", wie ich darin genannt wurde, beurteilt haben.

"Das Kind braucht viel Zuneigung" oder "Das Kind hat ein besonders gutes Gedächtnis" - da wurden Charaktereigenschaften genannt, die mir heute noch zugeschrieben werden. Das finde ich sehr fortschrittlich. Ich fürchte, eine solch persönliche Auseinandersetzung mit den Kindern ist heute schon lange nicht mehr der Fall. 2006 hat eine Bekannte diese Bewertungsbögen im Magistrat gefunden, bis dahin hatte ich keine Ahnung, dass es sie überhaupt gibt. Das war anfangs überraschend und sogar ein bisschen irritierend, aber auch schön.

derStandard.at: Sie waren immer das jüngste Kind in der Klasse. Haben Sie davon profitiert?

Rath: Ja, ich war der Klassenbenjamin. Ich musste mich immer ein bisschen mehr anstrengen, und es hat dazu geführt, dass ich mein Erwachsenenleben früher angefangen habe.

derStandard.at: In welche Schule sind Sie nach der Volksschule gegangen?

Rath: Ich war ein Wasagassler. Ich bin 1934 bis 1938 in die B-Klasse des Wasa-Gymnasiums gegangen, in die separate Judenklasse. Juden und Christen durften seit 1934 nicht mehr in die gleiche Klasse gehen. Das beruhte auf einem Erlass des damaligen Unterrichtsministers Kurt Schuschnigg. (Anm: es gab neun Schulen in Wien mit separaten Judenklassen)

Die letzten paar Monate nach dem Anschluss bis zum Sommer musste ich in den 17. Bezirk fahren, in die Kalvarienberggasse. Das war eine reine Judenschule. Die Schule in der Wasagasse wurde zum NSDAP-Hauptquartier. Nach dem Sommer durften jüdische Kinder gar nicht mehr in die Schule gehen.

derStandard.at: Welche Lehrer haben Sie geprägt?

Rath: In der Volksschule Marie Blesson, im Wasa-Gymnasium Otto Spranger und in der Ahawah-Schule in Palästina Perez Ureili. Das sind drei Personen, die meine Jugend mitgestaltet haben.

derStandard.at: Und im Gymnasium?

Rath: Mein Deutschlehrer Otto Spranger und mein Lateinlehrer Hans Pollak. Spranger hat sich geweigert, seine jüdische Frau zu verlassen, er durfte daher nach dem Anschluss nicht mehr unterrichten. Er hat auch in der Klasse meines Bruders unterrichtet, der ein Klassenkollege von Erich Fried war. Fried hat Otto Spranger geholfen, nach England zu kommen und dann weiter in die USA auszuwandern. Mein Bruder und ich haben Spranger noch zweimal in New York getroffen, er hat auf Psychotherapeut umgeschult. Für mich ist es wunderschön, dass der Name von Otto Spranger auf derselben Gedenktafel steht, die in der Wasagasse an die vertriebenen jüdischen Professoren erinnert. 

Hans Pollak habe ich auch sehr geschätzt, obwohl er mich am 11. März 1938 mit zwei Stunden Karzer bestraft hat. Er war auch mein Klassenvorstand. Wir waren immer drei Buben zusammen, Herbert, Pauli und ich. An dem Tag habe ich sie in der 10-Uhr-Pause dazu aufgefordert zu schwänzen, damit wir uns Flugblätter von der Vaterländischen Front gegen den Anschluss holen und sie dann verteilen: "Herbert, Pauli, wir schwänzen!" Pollak ist aber hinter mir gestanden und hat sofort gesagt: "Rath, zwei Stunden Karzer." Auf diesen Disziplinarverweis bin ich heute noch stolz.

Unser Mathematiklehrer Josef Sabbath hat auch meinen Bruder unterrichtet. Wir waren beide keine Frühaufsteher. Zu seinem Unglück hatten wir beide zweimal in der Woche in der ersten Stunde Mathematik. Wenn wir dann in letzter Minute in die Klasse kamen, hat er immer gesagt: "Kommt Zeit, kommt Rath." 

derStandard.at: Sind Sie gerne in die Schule gegangen?

Rath: Ja, aber ich war ein Durchschnittsschüler. In meiner Klasse gab es vier Vorzugsschüler, einer war mein Freund Herbert und einer war Ludwig Kandel (der ältere Bruder des späteren Nobelpreisträgers Eric Kandel, Anm.). Eric Kandel habe ich erst vor kurzem in New York kennengelernt, er sagt immer, dass sein Bruder der Begabtere war. Da ich ein gutes Gedächtnis hatte, habe ich mich in der Schule nicht sehr anstrengen müssen. Aber ich habe mich auch nie bemüht, ein Vorzugsschüler zu werden.

derStandard.at: Hatten Sie auch nationalsozialistische Lehrer?

Rath: Ja, beide Turnlehrer waren schon die tonangebenden illegalen Nazis in der Schule. Einer war Wilhelm Wagner, der hat meinen Bruder gequält, weil er Turnen nicht sonderlich mochte. Der andere war Franz Stefan, den hatte ich in Turnen. Aber als ich am letzten Schulskikurs im Februar 1938 die Bronzemedaille beim Skirennen gewonnen habe, war er stolz, dass auch ein Judenbub gut Ski laufen konnte. Als ich ihn 50 Jahre nach dem Anschluss getroffen und gefragt habe, ob er in der Partei war, hat er zu mir gesagt: "Ich habe nie etwas unterschrieben, man könnte sagen, ich bin nur mündlich beigetreten."

derStandard.at: Sie haben ihm schon vor dem Anschluss Fotos gebracht, um die antisemitische Propaganda im "Stürmer" in Deutschland zu beweisen.

Rath: Meine Bar-Mitzwa-Reise ging zu meinem Onkel nach Berlin. Er hat mir auf meinen Wunsch eine Kamera gekauft, eine kleine Box Tengor. Ich habe mich rausgeschlichen und die "Stürmer-Ecken", wo man auf der Straße die nationalsozialistische Propagandazeitung "Stürmer" lesen konnte, fotografiert. Auch die Judenbänke habe ich aufgenommen, in Wien entwickelt und bin damit zu Herrn Stefan gegangen.

derStandard.at: Wie hat er auf die Fotos reagiert?

Rath: Ich wollte ihm zeigen, dass das keine westliche Propaganda ist, wie er vorher behauptet hat, sondern es wirklich Judenbänke gibt. Er hat abgewiegelt.

derStandard.at: Wieso wollten Sie ihm das unbedingt beweisen?

Rath: Ich war immer politisch neugierig und habe schon mit sieben Jahren gerne Zeitung gelesen. Ich kann mich daran erinnern, wie ich gelesen habe, dass Hitler Reichskanzler geworden ist. Das war am 30. Jänner 1933, da war ich acht Jahre alt. Meine politische Neugierde war so stark entwickelt, dass ich erst eingeschlafen bin, wenn ich die Nachrichten auf Deutsch aus Straßburg gehört habe. Das war prägend, westlichen Nachrichten konnte man glauben.

derStandard.at: Was hat sich für Sie nach dem Anschluss geändert?

Rath: Über Nacht waren wir vogelfrei. Bis zum 11. März hatten wir trotz Austrofaschismus eine wunderschöne Jugend gehabt. Plötzlich war alles vorbei.

In der Schule war es ziemlich fürchterlich, die jüdischen Lehrer waren weg. Unser Lieblingslehrer Spranger, unser Lateinlehrer Pollak und auch unser Mathematiklehrer Sabbath, der später leider in Theresienstadt umgekommen ist. Das Gebäude in der Kalvarienbergstraße war ablehnend und fremd. Einige Schüler sind gar nicht mehr gekommen, ihre Eltern haben schon versucht auszuwandern. Dann haben wir noch Zuwachs von Schülern aus Mischehen bekommen.

Ich gehe heute noch sehr oft und gerne in Schulen, um davon zu berichten - solange ich noch kann. Mir ist das ein großes Bedürfnis, Schülern von der damaligen Zeit zu erzählen, bis heute ist das Kapitel der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich nicht ausreichend aufgearbeitet. Man kann in den Klassen eine Stecknadel fallen lassen, so gebannt hören die Schüler zu. Ich mache das immer sehr persönlich. Vor kurzem war ich in einer Hauptschule, die Schüler waren genau in dem Alter wie ich, als ich wegmusste. Ich frage sie dann: Könnt ihr euch das vorstellen?

derStandard.at: Wie sind die Lehrer, vor allem die nationalsozialistischen Lehrer mit Ihnen nach dem Anschluss umgegangen?

Rath: Sie wussten, dass wir Judenbuben nur noch ein paar Monate in die Schule gehen werden. Dann ist es aus. Einer der Ersten, die im Wasagymnasium abgeschafft wurden, war der Direktor Karl Ernst. Der war anständig, wahrscheinlich zu anständig. Er war einfach weg.

derStandard.at: Waren Sie sich der Tragweite der Ereignisse bewusst? Haben Sie als Kind gewusst, was passiert ist?

Rath: Kurz nachdem sie auf Radio Wien zum ersten Mal das Horst-Wessel-Lied gespielt haben, rief mein Vater aus Berlin an. Ich habe ihm davon abgeraten, nach Wien zurückzukehren, und wollte, dass er in Prag abwartet. Am nächsten Tag bin ich mit meinem Bruder zu unseren Großmüttern in den achten Bezirk gegangen, überall sind schon Polizisten mit Hakenkreuz-Binden gestanden. Da haben wir beschlossen, dass wir nach Palästina ausreisen wollen, in ein Land, aus dem man uns nicht wieder vertreiben würde. Vorher wollte ich aber nie etwas von Palästina oder Zionismus hören.

Es war ein schneller und deutlicher Entschluss, es gab keinen anderen Ausweg. Ich wäre aber fast nicht auf mein Schiff gekommen, weil man uns nach unserer Abschiedsfeier zu einer Hermann-Göring-Alteisensammlung abgeschleppt hat. Wir konnten in letzter Minute flüchten.

derStandard.at: Was ist mit der Papiergroßhandelsfirma Ihres Vaters geschehen?

Rath: Sie wurde von einem Nazi-Kommissar namens Boris Zeilinger übernommen.

derStandard.at: War mit Ihrer Flucht nach Palästina Ihre Kindheit zu Ende?

Rath: Ja, vollkommen. Ich habe von dem Schiff aus einen Brief an alle meine Freunde geschrieben: Liebe alle, trotz allem kann ich es nicht ermessen, dass ich mich mit jeder Minute von euch entferne, von allen, die mir so lieb waren. 

Das war zweifellos das Ende meiner Kindheit, aber es hat mir auch mein Erwachsenenleben verlängert. Ich bin aus einer verwöhnten mittelbürgerlichen Wiener Familie nach Palästina gekommen, und die erste Arbeit, die mir mein Erzieher aufgetragen hat, war das Leeren von fünf Senkgruben. Das war meine Jauchetaufe. Nachher war alles, auch Kuhdünger, wie Duft für mich.

derStandard.at: In welche Schule sind Sie in Palästina gegangen?

Rath: Ich war im Ahawah-Jugendheim, einer Freischule. Das Jugendheim wurde urspünglich als jüdisches Waisenhaus in Berlin gegründet. Wir haben Landwirtschaft gelernt, jüdische und allgemeine Geschichte, Hebräisch. Das war auch eine bestimmte Schulzeit, es hat aber nicht für eine Studienzulassung genügt. Als ich studieren wollte, musste ich eine externe Matura nachholen.

derStandard.at: Welche Rolle spielten dort die Lehrer?

Rath: Madrich bedeutet Wegweiser, das war der Haupterzieher, aber kein Lehrer. Er war drei Jahre lang die Autorität für uns. Wir konnten auch "Seelengespräche" mit ihm führen. Ich habe mich einmal überwunden und ihm meine Sorgen erzählt, und er ist dabei eingeschlafen. Das war ein Schock. Mit sechzehneinhalb wurde ich schon für erwachsen erklärt, ich habe dann eine Gruppe gegründet, die sich auf das Kibbuz-Leben vorbereitet hat.

derStandard.at: Hatten Sie jemals Lieblingsfächer?

Rath: Ich habe Geschichte sehr gemocht, ich hatte kein Problem mit Geschichtsdaten. Mit Latein habe ich mich gequält, aber irgendwie habe ich gewusst, dass es wichtig war. Es hat mir ermöglicht, mir Englisch selbst beizubringen.

derStandard.at: Sie haben Deutsch als Muttersprache, Hebräisch als zweite Sprache, und auf Englisch haben Sie jahrelang publiziert.

Rath: Deutsch habe ich aber jahrelang verdrängt. Das war die größte Schwierigkeit, dieses Buch auf Deutsch zu erzählen. Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich in Schwung gekommen bin. Jetzt bin ich vollkommen dreisprachig.

derStandard.at: In welcher Sprache rechnen Sie, in welcher Sprache träumen Sie?

Rath: Es hängt vom Zusammenhang ab. Wenn es mit Israel zu tun hat, dann rechne ich auf Hebräisch. Wenn ich hier bin, zähle ich auf Deutsch.

derStandard.at: Wie lange haben Sie nicht Deutsch gesprochen?

Rath: Viele Jahre.

derStandard.at: Warum wollten Sie nicht mehr Deutsch sprechen?

Rath: Ich habe auf Deutsch so viel Fürchterliches erlebt. Mein Bruder und ich haben nach unserer Ankunft in Palästina beschlossen, nur noch Hebräisch miteinander zu reden, obwohl wir nur das Bar-Mitzwa-Hebräisch konnten. Als ich nach dem Krieg 1947 zum ersten Mal wieder meinen Vater in New York getroffen habe, haben wir uns in einem verjiddelten Deutsch unterhalten, obwohl wir zu Hause immer Hochdeutsch gesprochen hatten.

Später haben wir miteinander Englisch geredet, auch in seinen letzten fünf Jahren, als er bei mir in Jerusalem gelebt hat, haben wir meistens Englisch gesprochen und ab und zu ein bisschen gejiddelt. Deutsch blieb uns immer fremd. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 17.9.2012)