Vexierbilder kennen wir alle. Ist das eine Frau, die sich im Spiegel betrachtet oder ein Totenkopf? Blickt hier ein Hase nach rechts, oder eine Gans nach links? Sehen wir hier eine alte Frau oder eine ganz junge? Dasselbe Bild, ein, je nach Betrachtung total unterschiedliches Objekt.

Diese Zeilen sind ein Plädoyer für eine gänzlich andere Betrachtung der EU.

Vexierbild Europa

Fast alles sehen seit Jahren ein die Katastrophe erwartendes Bild, und der Ausgang der Wahlen in Griechenland hat an diesem Bild nichts geändert: Der Euro und damit zwingend die ganze EU steht an der Kippe. Die Politik der Führung hat nur ein Prinzip: "To little, too late." Apokalypse hat Konjunktur. Joschka Fischer ruft, "Es geht fast um alles", und meint: "Entweder will man den Euro erhalten und muss sich dann schleunigst auf den Weg in die politische Union machen, oder man wird den Euro und die europäische Integration nolens volens rückabwickeln. Europa würde dann nahezu alles verlieren, was es an Integrationsfortschritten über ein halbes Jahrhundert hinweg erreicht hat, und sich in ein Europa der Renationalisierung zurückentwickeln. Dies wäre angesichts der entstehenden neuen Weltordnung eine Tragödie."

So argumentieren jene, die sich als "glühende Europäer" betrachten. Auf der anderen Seite krakeelen die Straches und le Pes, die "den faulen Griechen" keinen Cent mehr nachwerfen wollen, die den "Moloch Brüssel" bekämpfen und "unser Geld für unsere Leut" skandieren.

Als überzeugter, wenn nicht gar glühender Europäer, empfehle ich, dringend aus diesem düsteren Bild Europas auszusteigen und es anders, gänzlich anders, positiv zu betrachten. Ja, das gibt es, wenn man es sehen will.

Damals undenkbar, und heute?

Kurzer - persönlich erlebter - geschichtlicher Exkurs: Radtour durchs nördliche Waldviertel, irgendwann Mitte der 80er Jahre. Die Straße hinter Haugschlag geht wenige Meter und in unmittelbarer Nähe des eisernen Vorhangs vorbei. Rad abstellen und in den Wald hinein. An das Gefühl kann ich mich noch heute gut erinnern: Hier endet unsere Welt. Dort drüben, jenseits des Stacheldrahtes ist die dunkle unfreie Welt. Eine Verbindung, gar eine Öffnung war undenkbar.

Und heute: Auf herrlich ausgebauten Radrouten quert man beinahe unmerklich die Grenze und begrüßt die vielen tschechischen Radler, die ebensolches genießen. Wer kann sich nicht an das Gefühl erinnern, auf den Türmen in Berlin zu stehen, und über die Mauer samt Todesstreifen zu blicken. Für manche Grenzübertritte musste man Stunden einplanen, entwürdigend arrogantes Befragen/Durchsuchen inklusive. Und heute?

Mein andere Blick auf die EU sieht schlicht so aus

Diese EU hat ihre größte, gewaltige, politische Leistung schon vollbracht. Nur wird dies kaum gewürdigt. Diese große, nicht hoch genug einzuschätzende historische Leistung lässt sich ganz kurz zusammenfassen:

  1. Jeder Bürger dieser EU kann völlig frei darüber entscheiden, in welchem Land dieser unserer EU er leben, studieren und arbeiten möchte. Er muss niemanden um Genehmigung fragen, oder um Einreise ansuchen. Er fährt einfach los, und kann überall eine Universität besuchen, seinen Beruf ausüben oder ein Unternehmen gründen. Wer die Geschichte Europas auch nur ein wenig kennt, weiss wie viel das ist.
  2.  Die Staaten der EU haben Kompetenzen abgegeben. In gemeinsamen Gremien werden gemeinsame Strategien beraten und beschlossen. Auch wenn das oft enorm mühsam wirkt und auch ist, viele Beschlüsse auch wenig klug wirken, wie auch Beschlüsse unserer heimischen Regierung, alleine die Tatsache, dass es so etwas wie ein gemeinsames Ringen um die Zukunft Europas überhaupt gibt ist beachtlich.
  3. Was immer innerhalb der EU passiert, ob Umweltgefährdung, Menschenrechtsverletzungen oder Studienbedingungen, es geht uns alle etwas an. Es gibt hier kein "Ausland", irgendwie ist das alles "Inland".

Dieses "irgendwie" bleibt zu definieren, auszuhandeln. Wahrscheinlich noch viele Jahrzehnte lang. Was soll den Nationalstaaten bleiben, was soll, darf "Europa" vorgeben, darüber wird mühsam zu befinden sein, aber die große Errungenschaft als freier europäischer Bürger frei Lebens-Arbeits-Studiersitz wählen zu können, das bleibt.

Darauf bin ich stolz

Und deswegen trete ich auch jenen "Brüdern und Schwestern im europäischen Geiste" wie Joschka Fischer entgegen, die meinen, all den offensichtlichen aktuellen Schwierigkeiten dieses europäischen Projektes mit einem einzigen Schlachtruf nach "noch mehr Europa" begegnen zu müssen.

Jetzt haben wir, meinen diese, mit dem Euro angefangen. Der funktioniert aber nur mit einer politischen Union, den berühmten "Vereinigten Staaten von Europa" einem Bundesstaat, also müssen wir jetzt, ganz ganz schnell, weil eben dieser Euro so nicht funktioniert diese politische Union schaffen. Der verzweifelten Krise geschuldet, nicht dem Willen der europäischen Bevölkerung.

Geschätzter Joschka Fischer, und ihr alle, die jetzt "noch mehr Europa" rufen, ich teile eure Meinung nicht! Ja schärfer noch: Ihr gefährdet damit das europäische Projekt, das uns gemeinsam so am Herzen liegt, auch das bisher Erreichte.

Gemeinsame Währung ist nur Mittel zum Ziel

Wieder ein Einschub, bevor ich das begründe. Eine gemeinsame Währung ist ein Mittel zum Ziel, aber selbst kein Ziel Europas. Das Fatale an der aktuellen Debatte ist ja gerade, Europa und die EU auf Finanzielles zu reduzieren. Ein paar Fakten: Bei weitem nicht alle Länder die EU haben den Euro. Großbritannien wird ihn wahrscheinlich nie haben, viele andere, gute, vorbildliche Mitgliedsländer wie Dänemark oder Schweden haben ihn bis auf weiteres auch nicht. Interessant ist, dass in vier Ländern, die nicht zu EU gehören, der Euro jedoch Landeswährung ist.

Hier sei jetzt nicht die in der Tat enorm schwierige, enorm komplexe und folgenreiche Diskussion geführt, ob Griechenland den Euro behalten soll oder nicht. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, auf einen Kommentar von mir zu verweisen, den ich vor einem Jahr hier unter dem Titel "Erlösen wir Griechenland" geschrieben habe.

Worauf es mir mit meiner Argumentation ankommt: Sollte sich Griechenland entscheiden, vom Euro auf eine eigene Währung umzusteigen, warum sollte das das Ende der EU sein? Ja, die finanziellen Verwerfungen wären beträchtlich, aber Europa ist doch viel mehr!

Das Gemeinsame in der Unterschiedlichkeit

Wer jetzt, in einer Horuck-Notwehr Aktion eine politische Union erzwingen möchte, möge folgendes bedenken:

  1. Es gibt dafür in fast keinem Land eine Mehrheit in der Bevölkerung.
  2. Wer die USA für die "Vereinigte Staaten von Europa" als Bundesstaat als Beispiel bringt, vergisst das, was meines Erachtens den Kern Europas ausmacht: Das Gemeinsame in der Unterschiedlichkeit.

Wer Europa verstehen, will, muss "das andere" verstehen. Europa heißt nicht nur Sprachenvielfalt, sondern auch völlig unterschiedliche historisch/kulturelle Entwicklungen. Die Rolle "des Staates" war und ist in Griechenland anders als in Zentraleuropa, das wird gerade schmerzlich erlernt. Die Energiewende, der ich sehr anhänge, findet in Deutschland, in Österreich und einigen anderen Ländern breite Unterstützung, in Osteuropa oder in Frankreich steht man ihr eher ratlos gegenüber.

Völlig illusorisch ist deswegen auch die oft ersehnte "gemeinsame europäische Außenpolitik". Blitzschnell formieren sich bei beinahe jeder Krise Linien, die aus der Geschichte bekannt sind. Koloniale Vergangenheit oder Verbundenheit mit den USA sowie viele andere Faktoren verhindern hier ein abgestimmtes Vorgehen. "Das Gemeinsame in der Unterschiedlichkeit" spiegelt sich auch längst im Aufbau der EU wider.

Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Um neben dem Euro ein weiteres Beispiel zu nennen, welches EU-Bürger unmittelbar spüren: Der "Schengenraum", die Tatsache, dass man ohne Pass, ohne Grenzkontrollen reisen kann. Hier ist es ähnlich unübersichtlich wie beim Euro. Etliche EU-Länder sind "Schengen" beigetreten, etliche aus unterschiedlichen Gründen nicht. Ebenso sind einige Nicht-EU Mitglieder (wie z.B. die Schweiz) Teil von "Schengen". Es ist längst da, das "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten".

Betrachtet man so das Vexierbild EU, ergeben sich gänzlich andere Schritte in die Zukunft. Steht nicht "der Euro um jeden Preis" im Vordergrund, dann ist es auch nicht europäische Solidarität, spanische Banken retten zu müssen. Diese haben aus purer Gier, aus Geld noch mehr Geld machen zu müssen die spanische Küsten für Jahrhunderte völlig zerstört. Eine europäische Tragödie!

Heute stehen dort ebenso sinnlose wie hässliche Bauten leer. Wieso soll "europäische Solidarität" jene retten, die das verursacht haben? Ein Konkurs der einen oder anderen Bank mag auch als Lerneffekt für sehr viele gelten, sich endlich darum zu kümmern, was eigentlich mit dem Geld passiert, das sie Banken anvertrauen.

Europa ist viel mehr als eine finanzielle Haftungsgemeinschaft zur Rettung des Euro. Die Debatten und politischen Entscheidungen der letzten Jahre haben leider genau das Gegenteil dessen bewirkt, was "europäischer Geist" ist: Um nur ein Beispiel zu nennen. Griechen und Deutsche haben sich sichtbar entfremdet. Hässliche Feindbilder wurden auf beiden Seiten aufgebaut. Wird jetzt eine "politische Union" samt Haftungsgemeinschaft durchgedrückt, wird, hier muß man kein Prophet sein, Europa noch weiter auseinanderdriften.

Also, was tun?

Sich mit dem Erreichten zufriedengeben? Nein, aber auch mit Stolz das Erreichte wertschätzen. Im Kern müssen sich Schritte daran messen lassen, ob sie Europas Bevölkerung erreichen, und soetwas wie ein europäisches Selbstbewusstsein fördern. Nur ein Vorschlag, der schon von etlichen Spitzenpolitikern verschiedener Parteien lanciert wurde: Eine Direktwahl eines Europäischen (Kommissions-)Präsidenten. Er, oder sie bräuchte gar nicht viel mehr formale Macht. Die EU wird noch auf Jahrzehnte mühsames Verhandeln bedeuten.

Wenn aber erstmals in der EU ein gemeinsamer Wahlkampf stattfindet, und ein schwedischer Sozialdemokrat gegen eine Lettische Konservative, einen spanischen Freidemokraten, einen französischen Grünen und einen niederländischen EU-Kritiker antritt, dann wird schon allein durch diesen Wahlkampf, wo fast jede/ einen "Ausländer" wählen muss, Europa stark verändert.

Und so nebenbei würden alle Parteien achten, starke Persönlichkeiten in diese Wahl zu schicken. Auch dies würde der EU mehr "Gesicht" geben. Ein Europa dieser "unterschiedlichen Gemeinsamkeit" verspricht aber keine gefährlichen Illusionen. Bis auf weiteres, also noch viele Jahre und Jahrzehnte wird es Staaten und staatliche Identitäten geben. Das hat gar nichts mit Nationalismus zu tun.

Es gibt demokratische Strukturen und Identitäten, die auch staatlicher (griechischer, polnischer, britischer) Natur sind. Die europäische Identität muss wachsen.
Wir sollten sie preisen, pflegen, demokratisieren, aber nicht überfordern. (Christoph Chorherr, derStandard.at, 18.6.2012)