Roland Benedikter über Cyberwar.

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Bei Raytheon werden bereits hochtechnologische Spezialanzüge für Soldaten produziert.

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Im Rahmen des 8. Information-Security-Symposiums in Wien hat WebStandard mit dem Vortragenden Roland Benedikter über die Zukunft der Cyberattacken und die damit einhergehenden Veränderungen der Gesellschaft und des Internets gesprochen.

Benedikter ist Soziologe und Poltikwissenschaftler, tätig an der Stanford University und der University of California in Santa Barbara. Benedikters größtes Interesse liegt in der multidimensionalen Analyse der Globalisierung, die Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Technologie und Demografie umfasst. Im Moment arbeitet er an zwei Büchern zu den Themen "Globale Systemverschiebung" und "Zeitgenössische Kulturpsychologie des Westens".

derStandard.at: Betrachtet man die jüngsten Vorfälle wie Stuxnet und Flame, fragt man sich, wie es passieren konnte, dass diese so lange unentdeckt blieben. Woran liegt das?

Benedikter: Soweit wir heute wissen, waren diese Attacken geopolitisch sehr begrenzt. Sie dienen einer geopolitischen Konstellation, die darin besteht, dass wir eine multidimensionale Welt haben, in der es nicht nur ein Machtzentrum gibt. In Zukunft werden das mindestens vier oder fünf sein. Dazu gehören China, die USA, die neuen sogenannten "BASIC-Staaten" wie Indien, Südafrika und Brasilien. Russland gehört auch dazu und bestimmte intermediäre Staaten wie der Iran oder Venezuela, die zu klein sind, um größere Mächte zu sein, und auf ihre Weise versuchen, ihren Machtbereich und ihre globale Rolle auszudehnen.

Die Waffensysteme werden immer mächtiger, dadurch verschieben sich Konfrontationen auf eine komplexere Ebene. Deshalb führt man immer stärker kalte und heiße Kriege über das Internet, über Hackerattacken. Das ist eines der zentralen Paradoxa unserer Zeit. Diese Flame-Attacken müssen fast von Regierungen kommen, weil sie so hochkomplex programmiert sind, dass es fast unmöglich ist, dass das von Gruppierungen oder privaten Firmen stammt. Das ist zumindest die Mehrheitsmeinung. Sollte Flame von einer Regierung kommen, ist es unmöglich für andere Regierungen, dies herauszufinden, weil diese Cyberattacken erst am Anfang stehen.

derStandard.at: Welche Auswirkungen wird diese gegenseitige Cyberspionage haben?

Benedikter: In Zukunft wird die klassische Spionagetätigkeit auf die präventive Abwehr von solchen Entwicklungen fokussiert werden. Die Amerikaner hatten zum Beispiel eine Zeit lang die Strategie: "Wir machen alles nur noch über Satellitensysteme und Drohnen. Wir brauchen keine Spione à la James Bond am Boden, sondern legen unseren Fokus auf Satellitenüberwachung und ferngesteuerte Drohnen. Wir können jeden Punkt der Erde zu jeder Zeit überwachen." Je mehr über das Internet spioniert wird, desto mehr braucht man Menschen, um dem auf die Schliche zu kommen.

derStandard.at: Glauben Sie an diverse Verschwörungstheorien, die besagen, dass Anti-Viren-Hersteller in die Entwicklungsprozesse von Cyberattacken involviert sind?

Benedikter: Ich habe keine Hinweise, dass dem so wäre. Eher habe ich den Eindruck, dass Regierungen und private Anti-Viren-Hersteller immer stärker zusammenarbeiten werden, um diese Bedrohung aus dem Netz einzudämmen. Dies gilt insbesondere für westliche Regierungen. Dass diese Attacken gesteuert mit Hilfe von Anti-Viren-Firmen laufen, darauf gibt es keine Hinweise.

derStandard.at: Wie gefährlich sind diese Attacken für Otto Normalverbraucher? Ist abschätzbar, wie sehr ein normaler User von diesen Entwicklungen betroffen sein wird?

Benedikter: Der größte boomende Wirtschaftszweig heute ist die Wirtschaftsspionage. Das betrifft Know-how, Produktoinsmechanismen und auch Baupläne von Maschinen. Der wichtigste Zweig ist die Wirtschaftsspionage, und sie betrifft den Otto Normalverbraucher nicht, sondern Firmen, Regierungen und Verwaltungen.

Der zweitwichtigste Bereich ist quantitativ gesehen die Internet-Kriminalität. Das ist eine der größten Wachstumsbranchen der Welt. Im Internet werden zum Beispiel die Daten von 500.000 Menschen gehackt, und von jedem dieser Leute werden 50 Cent abgebucht. Das merkt fast niemand, aber 500.000 mal 50 Cent ergibt eine schöne Summe. Und es ist eine relativ sichere Geschichte, wenn man es gut tarnt. Die meisten Kriminellen sagen: "Wir tun alles, um ins Internet zu gehen mit unserem Geschäft, egal was es ist." Dies betrifft den normalen User sehr wohl. Waffenschmuggel, Prostitution, Betrug. All diese Felder der Kriminalität haben Einzug ins Internet gehalten. Es ist sicherer als traditionelle Kriminalität. Man ist physisch nicht da, man kann nicht erschossen werden und so weiter.

Die dritte Dimension ist die Internet-Kriegsführung. Diese ist schon lang im Gange. Zwischen den neuen G2-Mächten China und USA auf jeden Fall und zunehmend auch in Europa. Und hier ist der Bürger sehr wohl betroffen, denn Kriegsführung ist zunächst auf Informationen ausgerichtet. Wie Sie wissen, wurden die Baupläne zum Beispiel des neuen amerikanischen Jagdflugzeugs vollständig aus dem Internet entwendet, sehr wahrscheinlich von chinesischen Hackern, wobei ich nicht sagen möchte, dass es die Regierung war. Der Angriff kam vermutlich über China. Das sind Schlüsseldimensionen, die nur deswegen heute möglich sind, weil alles vernetzt ist. Ein normaler physischer Spion würde an diese Baupläne nie herankommen. Das ist das Vorfeldgefecht, und wir hoffen, dass es dabei bleibt.

derStandard.at: Sollte es nicht dabei bleiben, was wird das zur Folge haben?

Benedikter: Wenn es wirklich zu einem Krieg kommt, läuft das heute nie ohne vorhergehende Cyberattacke. Da gibt es eine konzentrierte Cyberattacke auf die Radaranlagen, die werden für zwei bis zu drei Minuten ausgeschaltet, und dann kommen die Jagdbomber. Die zwei Minuten reichen dann völlig aus. Der Bürger ist potenziell betroffen, weil, wenn der heiße Krieg abläuft, über das Internet Stromleitungen abgeschaltet werden können, Wasserleitungen gekappt werden und die Grundversorgung und somit ein ganzes Land lahmgelegt werden kann. Stellen Sie sich vor, ein Angriff auf Österreich würde so erfolgen, dass alle Computernetze zusammenbrechen. Dann funktioniert gar nichts mehr, weder die Zugverbindung noch Ampeln. Der Strom ist weg, die Information ist weg. Davon ist der Bürger massiv betroffen. Das ist zwar keine Atombombe, hat aber ähnliche Auswirkungen: die komplette Ausschaltung.

derStandard.at: Kommen wir zur Überwachung. Stichwort "Bundestrojaner".

Benedikter: Die letzte Dimension ist die zunehmende Überwachung durch Regierungen, und das macht mir am meisten Sorgen, muss ich sagen. Ich verstehe Überwachungen bei nichtliberalen Regierungen wie in China und dem Iran, die sich vor den eigenen Bürgern schützen müssen. Ich mache mir Sorgen, wenn das in demokratischen Ländern passiert, die die westliche Speerspitze darstellen. In Italien finden beispielsweise pro Jahr eine Million Überwachungen statt, und das ist nur die offizielle Information. Das heißt, jede italienische Familie ist in den letzten fünf, zehn Jahren mindestens einmal überwacht worden. Sei es per E-Mail oder auf anderem Weg.

Dies macht mir große Sorgen. Auch der Bundestrojaner, die potenzielle Überwachung des Einzelnen durch den Staat. Es ist keine positive Entwicklung, weil sie unsere liberalen Grundrechte einschränkt. Und dies nimmt auch exponentiell zu. Ich warne die europäischen Regierungen davor, zu weit zu gehen, und würde mich am amerikanischen Modell orientieren, wo die Dunkelziffer zwar hoch ist, wo es aber offiziell schwierig ist, Internetüberwachung vorzunehmen. Dies gilt im Inland. Die Zahlen im Ausland liegen sicher in horrenden Höhen, weil die Amerikaner im Ausland nicht um Erlaubnis fragen müssen.

derStandard.at: Wer, denken Sie, ist am besten für den Cyberwar gerüstet?

Benedikter: Ich glaube, dass derzeit niemand am besten gerüstet ist. Das Problem besteht in einem Paradoxon. Der Cyberwarfare hat ein wesentliches Paradoxon: Jede Gesellschaft will so hoch technologisiert und so gut vernetzt wie möglich sein, damit sie technologisch und wirtschaftlich an der Avantgarde steht, das hat etwas mit Pluralismus zu tun. Je fortschrittlicher sie sind, desto mehr müssen sie sich vernetzen, und je mehr sie vernetzt sind, desto angreifbarer sind sie. Das ist das erste Mal in der modernen menschlichen Geschichte technologisierter Gesellschaften, dass sich so ein Bild abzeichnet. Je fortschrittlicher ich bin, desto angreifbarer bin ich. Deswegen würde ich mich nicht zu sagen trauen, dass Amerika die technologisch fortschrittlichste Gesellschaft bildet und dafür am besten vorbereitet ist, weil es ein paradoxes Verhältnis ist.

derStandard.at: Wird das dazu führen, dass das Internet in seiner jetzigen Form nicht bestehen bleibt und sich einzelne Länder mit ihren Netzwerken abgrenzen? Wird man vor dem Internet so große Angst haben wie damals – und jetzt immer noch – vor der Atombombe?

Benedikter: In Zukunft muss man Angst haben, dass die Atombombe über solche Hackangriffe gezündet wird. Sie müssen ja bedenken, dass alles heute, auch die schlimmsten Waffen wie beispielsweise Hellfire-Raketen in den amerikanischen Drohnen, unbemannt fliegt. Kontrolliert von Computern. Das ist der perverse neue Job des Menschentöters. Sie haben einen Menschen in einem Suburb mit seiner Familie in einem kleinen Häuschen. Dieser Mensch geht um 8 Uhr früh in die Arbeit, steuert eine Drohne in Somalia, um fünf Leute zu töten, geht um 17 Uhr nach Hause und schaut mit seinen Kindern fern. Am nächsten Tag das Gleiche.

Das sind neue Arbeitsformen, auf die wir anthropologisch und kulturell nicht vorbereitet sind. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Zukunft wird eine geeinte Menschheit sein, immer stärker, und die Anbindung an das Internet kann man nicht mehr rückgängig machen. Es werden nur immer stärkere Schutzmechanismen eingreifen, und dadurch werden Bürgerrechte unausweichlich sinken. Es gibt ja Leute, die mittlerweile am interplanetaren Internet arbeiten. Wir werden den Raum irgendwann in den nächsten Jahren besiedeln, und die nächste Stufe ist das interplanetare Internet. Hier stehen neue Dimensionen bevor.

Das Internet wurde als Befreiungsmedium entwickelt. Je mehr Leute Zugang haben, desto mehr werden sich Ideale der Freiheit bilden. Deshalb brauchen wir weniger Bomben, weniger Angriffe. Denn die Zukunft ist die Hoheit der Software, die Hoheit der Ideen. Durch diese Information werden sich die Menschen keinem Gaddafi mehr anschließen. Und so war das Internet auch geplant. Die Überwachung wird das Internet in sein Gegenteil verkehren. Es wird zu einem Medium der Kontrolle, und ich spreche mich dagegen aus.

derStandard.at: Was ist zum Beispiel mit Ländern wie Nordkorea, die ihren Bürgern keinen Zugriff auf das Internet bieten?

Benedikter: Die autoritären Regimes haben dieses Problem nicht, denn sie nutzen es bereits als Überwachungsmedium. In Nordkorea herrscht nur eine temporäre Verzögerung einer unausweichlichen Entwicklung eines Steinzeit-Regimes.

derStandard.at: Was wird der nächste Entwicklungsschritt sein?

Benedikter: Die Amerikaner werden den "Super Soldier" züchten. Ein Soldat, der in seinem Körper mit dem Internet vernetzt ist. Gehirnimplantate, die mit Computern direkt verschaltet sind. Wenn da die Computersicherheit nicht funktioniert und sich jemand dazwischenschaltet, wird's problematisch. Stellen Sie sich vor, Drohnen werden auf einmal von Terroristen oder anderen gesteuert. Das sind die Probleme der Zukunft. Und niemand weiß, wie man das verhindert. Deswegen sind Science-Fiction-Filme so interessant, in denen Leute plötzlich mit Schwertern kämpfen, weil alle Waffen nichts mehr ausrichten. Wenn die fortschrittlichsten Waffen sich auf so einem hohen Niveau gegenseitig neutralisieren, dann fangen sie wieder mit dem "Total Disconnect" an. Das könnte durchaus passieren.

derStandard.at: Könnte die Vision, dass künstliche Intelligenz ein Eigenleben bekommt, wie Kurzweil es vorausgesagt hat, zu einem Krieg der Maschinen führen?

Benedikter: Es ist schon so. Derzeit steuern wir es zwar noch, aber diese Drohnen-Sache geht schon in diese Richtung. In Zukunft ist nicht die Rakete das Wesentliche, sondern die Steuerungssysteme. In Zukunft wird es stärker automatisiert. Zwei maschinelle Systeme bekriegen sich. Der Sieger der zwei Systeme zerstört die Menschen. Weil das Ziel der Urheber des Waffensystems ist. Die menschlichen Verluste bleiben weiterhin. Deswegen kann von einer Humanisierung der Kriegsführung keine Rede sein.

derStandard.at: Finden Sie diese Entwicklung beängstigend?

Benedikter: Bis zu einem gewissen Grad. Jede revolutionäre Technologie hat bis jetzt Angst gemacht. Ich habe großes Vertrauen, dass die Menschheit auch diese in den Griff kriegen wird. Wobei man nicht sagen kann, ob das geschehen wird oder es ausufert. Es könnte auch sein, dass irgendwann alle Atomwaffen der Welt gezündet werden, wie in den schlimmsten Science-Fiction-Filmen. Man kombiniert ja bereits biologisches Nervensubstrat mit elektronischen Geräten.

Die Zukunft liegt nicht nur in der elektronischen Kriegsführung, sondern in der Kontrolle der menschlichen "Einbildung". Die Zusammenschaltung von Mensch und Computer ist die zukünftige und eigentliche Dimension. Und dann steht das Menschsein zur Disposition, und das ist die wichtigste Dimension, die auf uns zukommt. Es kann sein, dass wir damit nicht fertig werden. Meine Hoffnung besteht darin, dass bis zu dieser Entwicklung der umliegende Raum besiedelt ist und wir zumindest andere Standbeine haben. Wir müssen mehr werden, uns ausstreuen, um in Zukunft die Veränderungen auszubalancieren. Ob das gelingt, weiß kein Mensch. (Iwona Wisniewska, derStandard.at, 6.6.2012)