Den Impuls zur Entstehung dieses Artikels lieferte der von Franzobel auf DER STANDARD veröffentlichte Artikel "Voten für die Wurstpartei". Ein interessanter Text, in dem er die streitbare, aber nicht überraschende Meinung vertritt, dass der Toleranzpegel der Österreicher sich in den letzten zehn Jahren höchstens an der "Oberfläche" erhöht hat.

Anderer Blick auf das Heimatland

Den kritischen Beobachtern mit realem Migrationshintergrund kommt das Aufnahmeland stets etwas anders vor als jenen, die einen solchen Hintergrund nicht haben. Es handelt sich dabei um Zuwanderer, deren Blick auf die neue Gesellschaft für längere Zeit von den in ihrem jeweiligen Geburtsland angeeigneten und im Zuge der Einwanderung mitgebrachten sozialen Dispositionen abhängen wird.

Das migrantische Leben und damit der Blick des Subjekts auf das Alte und das Neue weisen diverse Stadien auf. Wobei die in den jeweiligen Stadien entstandenen Interpretationen der neuen Gesellschaft grundlegend verschieden sind. Während in der Anfangsphase ihre Ansichten oft emotional und für "Alteingesessenen" merkwürdig ausfallen, erreicht ihr bipolares Leben nach einigen Jahren eine gewisse Kohärenz. Im Vergleich zu dem Blick der "Einheimischen" und dem der frisch Zugewanderten sind ihre Mutmaßungen über das Land in dieser Phase relativ unbeteiligt, sie fallen weder besonders emotional noch außerordentlich kritisch aus.

Heimische Schriftsteller als Toleranzmahner

Zahlreiche SchriftstellerInnen des Landes haben mit ihrer kritischen Übertreibungskunst wohlverdiente internationale Anerkennung erlangt. Ihre überdurchschnittliche Skepsis und ihre meistens überzogene Kritik des öffentlichen Lebens Österreichs gehören zu den mittlerweile habituell gewordenen Merkmalen, die gewiss einen wichtigen Faktor gut funktionierender Gesellschaften darstellen. Es handelt sich um eine begrüßenswerte Praxis, die ihre bedeutende Rolle allerdings nicht durch die Stimmigkeit der Argumentation, sondern durch ihre komplexe poetische Wirkung erzielt. Ein solcher Diskurs erinnert pausenlos an diverse menschliche Unzulänglichkeiten, etwa daran, dass die Gesellschaft bei weitem nicht so tolerant sei, wie sie sein sollte.

Nur oberflächliche Veränderungen

Franzobel, einer von den kritischen und engagierten Schriftstellern, hatte die hervorragende Idee, die Toleranz Österreichs am Beispiel des bei der Castingshow "Die große Chance" populär gewordenen Travestiekünstlers Tom Neuwirth, der unter dem Namen Conchita Wurst in der Show als Sängerin auftrat, einzuschätzen. In seinem Artikel "Voten für die Wurstpartei" kam er zu dem Ergebnis, dass sich in Österreich seit den 80er-Jahren etwas geändert hat. "Zumindest an der Oberfläche ist die Gesellschaft offener geworden. Mittlerweile tritt ein Geschminkter mit Stöckelschuhen und Stopfbrust im Fernsehen auf, feiert Erfolge und wird vom Publikum verehrt." Doch: "Die Wurst (...) ist kein (...) Beispiel für ein aufgeklärtes, tolerantes und weltoffenes Österreich, eher im Gegenteil. Ein Feigenblatt für die Schamlosigkeit hier urwüchsiger Kleingeistigkeit."

Da ich leider weder die Anzahl noch die persönlichen Daten derer kenne, die für die talentierte Kunstfigur Conchita Wurst votiert haben, beabsichtige ich das Phänomen nicht eingehender zu diskutieren. Obgleich ich gerne zugebe, dass ich in den letzten zehn Jahren ohnehin einen flächendeckenden und nicht einen oberflächlichen Anstieg der Offenheit in Österreich konstatiere. Der Unterschied erklärt sich mit den unterschiedlichen Perspektiven, und wer von uns im Besitz der besseren Perspektive ist, kann (ohne Fakten) schwer beurteilt werden.

Nicht nur die eine Seite der Medaille betrachten

Skepsis, kritisches Denken gehören selbstverständlich zu den wichtigsten Kapitalformen der Intellektuellen. Österreich ist nicht nur in ökonomischer, sondern auch in dieser Hinsicht ein reiches Land. Doch ganz befriedigend ist die Situation trotzdem nicht.

Erstens, weil die oft bewusst überzogenen Kritiken jene, die mit den Neigungen der österreichischen Literaten weniger vertraut sind, in die Irre führen könnten, und zweitens deshalb, weil die Kritiken etwa in der sogenannten "Ausländer- und Toleranzproblematik" überwiegend nur eine Seite der Medaille betreffen, nämlich die "einheimische" Seite.

Geringe Toleranz von beiden Involvierten

Im Bezug zu diesem Themenkreis melden sich die österreichischen Intellektuellen im Allgemeinen mit und ohne realen Migrationshintergrund vorwiegend kritisch zu Wort, doch selten äußern sie sich über die in diverse Schwierigkeiten geratenen MigrantInnen. Es gibt wenig Diskussion etwa über die möglichen Hintergründe eines Konflikts, der oft genug aufgrund geringer Toleranz beider Involvierten entsteht.

Im Moment ist diese Lücke medial zweifellos äußerst schwer transportierbar, da selbst ein sachlicher Umgang mit der zweiten Seite der Medaille wohl kontraproduktiv ausfallen würde. Eine Lösung muss es aber früher oder später geben. Eine große Chance sollte aber gerade ein von MigrantInnen selbst generierter und an sie selbst gerichteter Diskurs zur Frage der eigenen Toleranz und Kulturoffenheit bieten. (Zoltán Péter, derStandard.at, 30.4.2012)