Burleske Kunstfigur mit Entzückungspotenzial für SMS-Demokraten und Kleinformat-Leser: Conchita Wurst.

Foto: ORF / Ali Schafler

Mitte der Achtzigerjahre kam einer meiner damaligen Klassenkollegen mit grünem Lidschatten und rosaroten Lippen in die Schule (HTL Vöcklabruck). Die Aufregung war groß. Ein Fachlehrer verweigerte dem Geschminkten ohne Angabe von Gründen die Teilnahme am Werkstättenunterricht, ein Schulverweis stand im Raum, die Eltern wurden vorgeladen. Nun war die vor allem von Burschen besuchte HTL damals eine Hochburg der Homophobie und Intoleranz - eine Mitschülerin sprach etwa Reinold Messner wegen seiner Bart- und Haartracht jegliches Menschsein ab. Seither hat sich einiges verändert. Zumindest an der Oberfläche ist die Gesellschaft offener geworden. Mittlerweile tritt ein Geschminkter mit Stöckelschuhen und Stopfbrust im Fernsehen auf, feiert Erfolge und wird vom Publikum verehrt.

Conchita Wurst, dieses Mannsweib aus der ansonsten verkarsteten österreichischen Castinglandschaft, muss man mögen. Jung, attraktiv, metrosexuell und irgendwie auch ein Symbol für Toleranz und persönliche Freiheit. Schon der Name, die geeinte Dichotomie zweier primärer Geschlechtsmerkmale, ist eine Wucht. Die Wurst sieht aus wie die Mischung aus argentinischem Fußballer, Jesus und beiden Stöcklschwestern. Ihr Ehemann (auch sein Name ist Programm) nennt sich Jaques Patriaque und als Geburtsland behauptet der Shootingstar das vom jahrelangen Drogenkrieg zerklüftete Kolumbien. Die Österreicher lieben ihre Wurst wie seinerzeit Hermes Phettberg, der freilich ein ganz anderes Niveau hatte (und hat). Tausende Fans auf Gesichtsbuch, unzählige Medienauftritte, das sonst seriöse und zu relevanten Sachthemen berufene Fernsehformat Thema widmet ihr einen Beitrag. Sogar His Hausmaster's Voice, der erzreaktionäre Schani aller Stammtischmeinungen, schickt ihr wöchentlich begeisterte Post aus dem Kleinformat.

Ob die Wurst auch noch singen, tanzen, Kamm blasen oder sonst was kann, spielt da eigentlich gar keine Rolle mehr. Wurst! Früher wurden bärtige Frauen gemeinsam mit Kleinwüchsigen, starken Männern oder durch seltene Krankheit entstellte Menschen auf Jahrmärkten angepriesen und in Freakshows ausgestellt, heute treten sie in der zeitgemäßen Form der Zurschaustellung auf, im Menschenzoo einer Talenteshow.

Die große Chance heißt die Sendung, und der als Wurst auftretende Travestiekünstler Tom Neuwirth hat sie sicherlich genützt. Seine burleske Kunstfigur versetzt das Land in kollektives Entzücken und erregt wesentlich positivere Resonanz als der mit einem Mann tanzende Alfons Haider. In einem Land, in dem die Menschen lieber voten, als wählen gehen, lieber für einen Kandidaten anrufen, als ein Bildungsvolksbegehren zu unterschreiben, würde die Wurstpartei, wenn man für sie simsen könnte, wohl sogar ins Parlament einziehen.

Dabei ist der gelernte Schaufensterdekorateur Tom Neuwirth, der sich selbst in eine Puppe verwurstet (oder in eine Wurst verpuppt?) und im Fernsehen Celine- Dion-Lieder singt, um nichts provokanter als Charleys Tante für das Nachkriegsbiedermeier. Hat man sich erst einmal an den dunklen Dreitagebart im femininen Outfit gewöhnt, bleibt nicht mehr als ein verkleideter Kerl, der halblustige Geschichten erzählt und dabei sämtliche Klischees eher verfestigt, als sie aufzubrechen. In Thema gefiel er sich als aufgeputzte Putze mit Schauferl und Bartwisch, in einer Illustrierten als Schoßsitzer, als die bessere Frau, die sämtliche Gleichberechtigungsproblematik durch übertriebenes Rollenspiel ad absurdum führt. Ein salonfähiger Freak.

Vielleicht passt die Travestie ja gut zu unserer mit Wurstigkeit durchsetzten Gesellschaft? Nicht wenige leben mit Handys, die alles können, filmen, navigieren, Musik spielen, Kaffee kochen, Kinder erziehen, nur nicht telefonieren. Viele machen Urlaub in Ressorts, in denen es alles gibt außer Einheimische. Fertigmöbel, Fertignahrung, Fertigmeinung. Virtuelle Freunde, virtueller Sex. Es gibt Kaffee ohne Koffein, Schlagsahne ohne Fett, Zuckerersatz, Bier ohne Alkohol, Analogkäse, Formfleisch, als Politiker getarnte Lobbyisten und noch so einige Falschprodukte, die sich bemühen, echter als die echten zu wirken. Durch Schönheitsoperationen entstellte Menschen mit Mündern wie Pavianärsche. Korruptionsskandale. Bankenkrisen. Ungeheure Neuverschuldung, während Sozialeinrichtungen, Bildungsinstitute und Kulturveranstalter totgespart werden.

Wir leben in einer verlogenen Zeit, und Österreich war immer schon ein Land der Wursteln und Durchwurstler. Da passt ein sich Wurst nennender Travestiekünstler mit fiktivem Migrationshintergrund ganz wunderbar, besonders wenn seine Kanten weich wie falsche Brüste sind und er die eigentliche Problematik von Rollenzuweisung, Transgender, Asylbewerbung und Gleichstellung von homosexuellen Paaren nicht einmal streift.

Die Wurst? An der Verwesung verhinderte Leichenteile, in ihre eigenen Kotkanäle gestopft, wie sie der bayrische Barde Fredl Fesl einmal definierte, die Wurst, um die es hier geht, ist kein in den falschen Körper Hineingeborener, kein Hermaphrodit, keiner, der von Ute Bock gerettet worden ist und somit auch kein Beispiel für ein aufgeklärtes, tolerantes und weltoffenes Österreich, eher im Gegenteil. Ein Feigenblatt für die Schamlosigkeit hier urwüchsiger Kleingeistigkeit.

Die Wurst wird weder Chauvinisten noch Homophobe zu mehr Toleranz bekehren. Sie ist auch nicht annähernd so mutig wie jener HTL-Lehrer, der seit Herbst als Frau unterrichtet. Bald wird sie für Rasiercreme und Extrawurst werben, eine Talkshow im Fernsehen leiten, ein Quiztaxi lenken und vor Fußballspielen statt der umstrittenen Nationalhymne "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei" singen, aber mögen muss man sie trotzdem, die Wurst.

Vielleicht dient ihr Vorbild ja einigen Menschen dazu, sich etwas mehr zu trauen. Das wäre für eine Castingshow schon viel, für ein Land, bei dem es um die Wurst geht, aber wenig. (Franzobel, DER STANDARD; Printausgabe, 12./13.1.2011)