Siddharta Mukherjee ist Krebsforscher und praktizierender Onkologe. Er ist Assistenzprofessor an der Columbia University und arbeitet am New York Presbyterian Hospital. Für "The Emperor of all maladies" wurde er 2011 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Foto: Deborah Feingold

Geschichten über Medizin und Wissenschaft erzählen können nur wenige. Der US-Arzt Siddharta Mukherjee beherrscht diese Kunst meisterhaft. Karin Pollack sprach mit ihm anlässlich seiner Buchpräsentation über Stillstand, Fortschritt und Engagement.

Standard: 700 Seiten über Krebs: Sie haben sie für Patienten geschrieben, sagen Sie. Wie viel wussten Sie selbst vor der Recherche?

Mukherjee: Erstaunlich wenig. Die meisten Ärzte wissen nicht, wie sich Chemotherapie entwickelt hat. Das wird an den Universitäten gar nicht gelehrt. In meinem Buch versuche ich die Frage zu beantworten, die mir einmal eine Krebspatientin nach dem zweiten Rückfall gestellt hat: "Ich bin bereit zu kämpfen, muss aber wissen, wer mein Gegner ist." Für die Antwort bin ich zu den Ursprüngen zurückgegangen und habe in der Geschichte wundersame Dinge entdeckt. Sie sind für ein Verständnis fundamental.

Standard: Wie aufwändig waren die Recherchen?

Mukherjee: Es war eine kontinuierliche Recherche über sechs Jahre - in Archiven, medizinischen Journalen. Wirklich schwierig war es, eine Form zu finden, all die unterschiedlichen Teile in ein Ganzes zusammenzufügen.

Standard: Wie sehr mussten Sie Informationen vereinfachen?

Mukherjee: Ich habe wissenschaftliche Zusammenhänge nicht stark simplifiziert, vom Aufbau her ist das Buch wie ein Musikstück, vieles wiederholt sich, oft in anderen Zusammenhängen. Allein vom Aufbau ergibt sich ein komplexes Bild.

Standard: Sie beschreiben viele erbitterte medizinische Debatten. Als Patient denkt man, Ärzte wissen, was sie machen.

Mukherjee: Nichts ist in der Medizin ist in Stein gemeißelt, das sollten auch Patienten wissen. Fortschritt ist das Ergebnis einer kontinuierlichen Debatte, von der die Patienten natürlich wenig mitbekommen. Wichtig ist, dass Patienten Ärzte nicht mit Gott verwechseln. Jeder von ihnen kann auch Fehler machen.

Standard: Krebs hat die Grundlage für evidenzbasierte Medizin geschaffen. Sind Sie ein Verfechter davon?

Mukherjee: Ja natürlich, ich kritisiere aber das, was ich medizinische Arroganz nenne, also Menschen, die vorgeben, alles zu wissen. Vieles in der Medizin steht auf dünnem Eis, ich habe mich in diesem Buch um größtmögliche Objektivität bemüht.

Standard: Und widmen sich auch der Frage, ob Chemotherapie die richtige Richtung war?

Mukherjee: Es waren Medikamente, die die schnelle Zellteilung, ein Charakteristikum von Krebszellen, stoppte. Für manche Formen von Krebs funktioniert das auch gut. Das Hauptproblem in der Krebsforschung ist aus meiner Sicht die Generalisierung. Ich habe versucht, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Bestimmte Formen von Krebs reagieren gut auf Chemotherapie, andere gar nicht.

Standard: Warum?

Mukherjee: Krebs ist keine Krankheit, sondern eine Familie von Krankheiten, die auf biologischer Ebene verbunden sind. Gemeinsam ist ihnen ein abnormes, unkontrolliertes Wachstum von Zellen. Doch jeder Krebs hat sein eigenes Gesicht.

Standard: Ist das medizinische System mit seiner Aufteilung in Fachgebiete bei Fragen wie Krebs überfordert?

Mukherjee: Spezialisierung hat Vorteile: Forscher können sich auf eine Sache konzentrieren, aber auch Nachteile: nämlich den Blick auf das große Ganze zu verlieren. Krebs führt das deutlich vor Augen. In den letzten Jahren wurden jedoch schon viele Fachgrenzen überwunden, und so wird es weitergehen.

Standard: Welche Rolle haben Patienten im Kampf gegen Krebs?

Mukherjee: Statistisch gesehen ist jeder von uns Patient, auch der Politiker, der Arzt, der Bäcker alle, denn einer von zwei Männern wird in der Zukunft an Krebs erkranken, eine von drei Frauen. Der Krebs ist sozusagen zu den Menschen gekommen. Deshalb sind die Patienten der Schlüssel zu allem: als Teilnehmer von Studien, als Aufklärer, als Lobbyisten, als Anwälte für die Sache.

Standard: Hätten Sie noch Stoff für weitere Bücher?

Mukherjee: Stoff schon, ich werde aber in naher Zukunft keine Fortsetzung schreiben. (DER STANDARD Printausgabe, 27.02.2012)