Der Kampf gegen Krebszellen im Wandel der Zeit. Nachzulesen in Siddharta Mukherjee: Der König der Krankheiten. Dumont 2012, 669 Seiten, 26,80 Euro.

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Manchmal ist es wirklich schlecht, wenn ein Buch schon im Titel das Wort " Krebs" führt. Das landläufige Vorurteil: Solche Bücher lesen doch nur Betroffene, die von einem Tag auf den anderen mit einer ganzen Lawine medizinischen Kauderwelsches konfrontiert sind, Entscheidungen treffen müssen ohne das Geringste verstanden zu haben. Alle anderen ignorieren das Thema geflissentlich, denn nichts ist unpopulärer als über die eigene Begrenztheit des Daseins nachzudenken.

"Der König aller Krankheiten. Krebs - eine Biographie", wählt einen anderen Zugang als herkömmliche Literatur zum Thema. Es ist weder ein egozentrischer Bericht eines Patienten, noch ein langweiliges Sachbuch zum Thema. Für den Autor, den US-Krebsarztes Siddharta Mukherjee, ist Krebs ein Vehikel, um die Kulturgeschichte der gesamten Medizin zu erzählen. Er beginnt bei der ägyptischen Hochkultur und endet in den Labors in San Francisco, wo Forscher um genetisch veränderte Medikamente als Heilmittel ringen. Das Buch erscheint dieser Tage auf Deutsch. Es wurde 2011 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und stand wochenlang auf den Bestseller-Listen der "New York Times".

Zurecht Denn Mukherjee leistet ein großes Stück Aufklärungsarbeit, die in dieser leichtfüssigen aber trotzdem umfassenden Art niemand zu erzäheln imstande war. "Viele meiner hoch geschätzten Kollegen kannten die Anfänge der Chemotherapie nicht, obwohl sie jeden Tag Krebspatienten damit behandelten", erzählt Mukherjee. Für die Erklärung holt er weit aus, nämlich bis zur britischen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts und ihrem Bedarf an Färbemitteln, die von den Deutschen als neuer Geschäftszweig besetzt wurde. Aus den chemischen Entdeckungen der Farbenindustrie generierten Forscher die Idee für neue Medikamente, die Idee, dazu bekamen sie durch den Einsatz von Giftgas im ersten Weltkrieg. Wer diese Art von breitem Bogen bei der Betrachtung der Dinge mag, kommt bei der Lektüre dieses 600-Seiten-Wälzers auf voll und ganz seine Rechnung. Indem er Kulturgeschichte erzählt, schafft er Verständnis in einer ganz neuen Art und Weise.

Schlüsselfiguren

Über allem geht es ihm jedoch darum, seinen Lesern die Natur von Krebserkrankungen transparent zu machen. Was bedeutet unkontrolliertes Wachstum von Zellen, diese Frage beantwortet er in zunehmend unterschiedlichen Zusammenhängen. Er pickt sich Schlüsselfiguren des medizinischen Fortschrittes heraus, und zeichnet so die einzelnen Etappen nach.

"Die Verallgemeinerung von Krebs als einer monolithischen Erkrankung ist eine der großen Missverständnisse, mit der die Forschung bis heute hadert", resümiert er stets um Objektivität bemüht. Gewisse Formen von Krebs seien heilbar, bei anderen stehe man dort, wo auch schon die Medizin vor 100 Jahren keine Mittel anzubieten hatte. Mukherjee nimmt seine Leser mit auf einem Ritt zu den Errungenschaften der Infektiologie (Antibiotika), der Virologie und erklärt, aus welchen Beweggründen Evidenz basierte Medizin, also der statistische Nachweis der Wirksamkeit von Medikamenten, entstanden ist. Um diese hoch theoretischen Zusammenhänge plastischer zu gestalten, skizziert er sie anhand von Patientenschicksalen - und schafft Eindringlichkeit. Daran, wie wichtig das Engagement der Patienten ist, veranschaulicht er am Beispiel der Entwicklungen um die Immunschwäche-Erkrankung Aids - hier haben Patienteninitiativen Wesentliches zur Entwicklung der Therapie beigetragen.

Sinn von Screenings

Spannend sind Mukherjees Abhandlungen zu Krebsprävention. Wer den Sinn von Screenings verstehen will, findet die entsprechenden Fakten in gut lesbaren Kapiteln mit für die Verständlichkeit eindringlichen Metaphern erklärt, auch dem Rauchen als klar krebserregendem Einflussfaktor hat er viel Platz gewidmet. Er beschreibt es als Kampf der Lobbyisten, auch hier wieder Kulturgeschichte.

Den Vorwurf der Kritiker, "das Buch sei zu amerikanisch", pariert Mukherjee mit großer Gelassenheit. "Amerikanisch an diesem Buch ist das Fundraising für die Forschung, in der Sache sind europäische und amerikanische Onkologen doch aber wohl eher mit den selben Voraussetzungen konfrontiert", sagt er. Das selbe gilt für die Patienten: Wer mündig werden will, soll lesen. Vielleicht besser solange die Krebszellen, die jeder Mensch in sich trägt, noch als "Schläfer" im Organismus existieren - mit objektiv unverzweifeltem Blick. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 27.2.2012)