Fahndungsfotos in Bahnhöfen schaffen Unsicherheitsgefühle, ...

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... meint Soziologe Reinhard Kreissl. Auch die Polizisten und Polizistinnen an der Basis hätten keine große Freude mit dieser Novität.

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Kreissl fordert auch, der Polizei einfach ihre Arbeit machen zu lassen, denn das meiste davon, sei Papierkram.

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Wem bringen die neuen Fahndungsfotos in Wiener Bahnhöfen etwas? Laut dem Soziologen Reinhard Kreissl dienen sie nur der Polizeiführung zur Imagepflege – das Sicherheitsempfinden der Menschen hingegen leide unter den Bildern.

derStandard.at: An Wiener Bahnhöfen sind seit kurzem Fahndungsfotos zu sehen. Die Polizei will auf diese Weise das "subjektive Sicherheitsgefühl" steigern. Wird das funktionieren?

Kreissl: Mit dem Sicherheitsgefühl ist das so eine paradoxe Geschichte: Sicherheit entsteht, wenn ich nicht über sie nachdenke. Wenn ich Sie frage: "Fühlen Sie sich eigentlich sicher?", dann beginnen Sie erst zu überlegen: "Hm, sollte ich mich unsicher fühlen?"

derStandard.at: Das heißt, solche Fotos tragen eher dazu bei, das Sicherheitsgefühl zu erschüttern?

Kreissl: Maßnahmen, die deutlich zum Ausdruck bringen, dass etwas gegen Kriminalität getan wird, erhöhen das Unsicherheitsgefühl. Wenn Sie über den Schwedenplatz gehen und dort sieben Polizeiautos sehen und nicht wissen, was los ist, dann sind Sie erst einmal verunsichert. Wenn Sie in einer bestimmten Zeitung jeden Tag lesen, dass "die Ostbanden" unsere Wohnungen leerräumen, sind Sie verunsichert. Jede Kommunikation über Kriminalität erhöht das Unsicherheitsgefühl.

derStandard.at: Warum spricht die Polizei dann so viel darüber?

Kreissl: Man muss unterscheiden zwischen der Polizeiführung und den Polizisten, die tagtäglich diese Arbeit machen. Die Polizeiführung hat Interesse an Symbolpolitik. Sie verwendet das Kriminalitätsthema, um zu zeigen: "Seht her, wir tun etwas." Die Sicherheitskräfte werden für politische Kampagnen instrumentalisiert.

derStandard.at: Erleichtern oder erschweren die Fahndungsbilder die Arbeit der Polizei?

Kreissl: Die Polizisten, die tagtäglich diese Arbeit machen, sagen: "Um Gottes Willen." Sie werden nämlich zugemüllt mit sinnlosen Anrufen. Es gibt die üblichen verdächtigen Querulanten, die Sie durch solche Aktionen in Bewegung setzen. Die rufen dann an und sagen: "Den hob i gseng, letzte Wochn bei da Trafik." Und die Polizisten sagen: "Oh Gott, nicht der schon wieder." Meistens gibt es ja keinen Anhaltspunkt. Das ist ja auch die Lehre aus diesen ganzen Fahndungen – Rasterfahndung, Schleierfahndung und so weiter. Es gibt 500 Hinweise, denen man dann ohnehin nicht nachgehen kann. Man sollte die Polizei einfach ihre Arbeit tun lassen, die wissen ja, was sie tun. Die Hilfe der Bevölkerung ist in dem Fall völlig überflüssig.

derStandard.at: Bei den Fahndungen nach Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland wurden Fahndungsfotos im großen Stil eingesetzt. Was waren da die Erfahrungen?

Kreissl: Keine einzige der zentralen Figuren aus dem RAF-Spektrum ist aufgrund eines Fahndungsfotos identifiziert worden. Dabei hingen die RAF-Fahndungsfotos in Deutschland ja wirklich bei jedem Greißler und jedem Postamt im Fenster, der ganze öffentliche Raum war damit zugepflastert. Diese Fotos sind heute ein Symbol für die sogenannte "bleierne Zeit" in Deutschland – das war ein Klima der Angst, eine Paranoisierung der Öffentlichkeit. In einem operativen Sinne haben diese Bilder gar nichts gebracht.

derStandard.at: Wie sicher fühlen sich die Menschen in Wien?

Kreissl: Sehr sicher. Wien ist eine Insel der Seligen. Diese Stadt hat alles, nur kein Kriminalitätsproblem. Der langfristige Kriminalitätstrend geht leicht nach unten, und auch das subjektive Sicherheitsgefühl ist relativ stabil, die Wiener fühlen sich wohl. Kurzfristig betrachtet haben Sie natürlich immer diesen Medienhype: Als vor einem halben Jahr dieser Rumänien-Hype in der "Kronen Zeitung" war, hat mich zum Beispiel meine Vermieterin gefragt, ob sie sich eine Videokamera zulegen soll. Es gibt da so kurze Aufregungen, wo die Leute verunsichert werden. Aber insgesamt ist Kriminalität keine große Sorge der Menschen.

derStandard.at: Das Sicherheitsgefühl hat also wenig mit der tatsächlichen Kriminalitätslage zu tun?

Kreissl: Genau. Wenn man Umfragen zum subjektiven Sicherheitsgefühl mit politischen Initiativen und den Kriminalitätsstatistiken über einen längeren Zeitraum vergleicht, dann sehen Sie: Politische Kampagnen, mediale Berichterstattung und das subjektive Gefühl schwingen immer gleich, die Kurven verlaufen mehr oder weniger parallel. Nur die registrierten Straftaten bewegen sich relativ unabhängig und gehen in den letzten Jahren leicht nach unten. Das heißt, das subjektive Sicherheitsempfinden ist im Wesentlichen eine Funktion der medialen Vermittlung. Die reale Kriminalitätsbelastung verläuft unabhängig davon.

derStandard.at: Menschen mit Migrationshintergrund sind in den Anzeigestatistiken überrepräsentiert. Man wird sie also häufiger auf Fahndungsfotos sehen. Könnten rassistische Tendenzen dadurch verstärkt werden?

Kreissl: Dass sie öfter angezeigt werden, liegt zum einen daran, dass sie oft "sichtbarer" sind als die anderen, zum anderen haben Studien in verschiedenen europäischen Ländern gezeigt, dass Polizisten eher nach Hautfarbe als nach Tatverdacht vorgehen. Ausländer sind im Schnitt jünger, haben eine schlechtere soziale Lage und sind daher auch kriminalitätsgefährdeter. Es herrscht im Alltag ein gewisser Rassismus, in der Bevölkerung wie innerhalb der Polizei, der natürlich nichts Polizeispezifisches ist. Die Wahrscheinlichkeit, als sichtbarer Ausländer angezeigt zu werden, ist höher als die von Inländern. Wenn Sie jetzt bei den Fahndungsbildern einen hohen Anteil an Migranten haben, dann verstärkt das natürlich schon Vorurteile.

derStandard.at: Wie lässt sich das subjektive Sicherheitsgefühl steigern?

Kreissl: In der Polizeiarbeit gibt es Ansätze, dass sich die Polizei eher als eine diffuse Ansprechinstitution versteht, die einfach nur da ist. Es gibt Untersuchungen, die den Polizeinotruf auswerten: Da haben Sie den entflohenen Kanarienvogel, den lauten Nachbarn, den Falschparker da unten auf der Straße – aber echte Kriminalitätsbekämpfung ist nur ein verschwindend geringer Teil der Polizeiarbeit.

derStandard.at: Ist man als BerufseinsteigerIn auf dieses Tätigkeitsprofil gefasst?

Kreissl: Sagen wir so: Die Polizei leidet unter einem Selbstmissverständnis. Das Selbstbild lautet: "Wir sind dazu da, Kriminelle zu fangen." Aber 80 Prozent dessen, was die Polizei tut, ist Papierarbeit. Die sitzen da, füllen ihre elektronische Dienstdokumentation aus, nehmen Protokolle auf, tippen eine Anzeige ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Polizist einen Kriminellen auf frischer Tat ertappt, liegt bei einem Mal in 17,5 Jahren. Das tägliche Brot der Polizisten ist eher Konfliktschlichtung – und dafür sollten die Beamten auch ausgebildet werden. (derStandard.at, 31.1.2012)