Sozialmediziner Wolfgang Freidl

Foto: Helmut Utri

In den Niederlanden ist kürzlich erstmals für eine schwer demente Frau aktive Sterbehilfe geleistet worden. Bisher war das nur dann möglich, wenn der Wunsch in einem frühem Krankheitsstadium ausdrücklich festgehalten wurde. Demenz wird in Zukunft ein großes gesellschaftspolitisches Thema sein: in Österreich sind derzeit 110.000 Menschen davon betroffen. Experten gehen davon aus, dass sich diese Zahl alle 20 Jahre verdoppeln wird. Der Sozialmediziner Wolfgang Freidl erklärt vor diesem Hintergrund warum er gegen institutionalisierte Sterbehilfe ist, es sich aber vorstellen kann, selbst Sterbehilfe zu bekommen.

derStandard.at: In den Niederlanden ist erstmals aktive Sterbehilfe für eine schwer demenzkranke Frau geleistet worden. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Freidl: Je stärker man Sterbehilfe ausweitet, desto mehr geht die gesellschaftliche Normenbildung in diese Richtung. Das heißt: ist Sterbehilfe einmal erlaubt und die Grenzen sind nicht ganz eng gesetzt, kann es sich auf einer schiefen Ebene immer weiter verselbstständigen. Mit der Konsequenz, dass es nicht mehr kontrollierbar ist. Der Fall in den Niederlanden ist ein gutes Beispiel dafür, denn bis dato war dort aktive Sterbehilfe nur erlaubt, wenn Demenzkranke den Wunsch im frühen Erkrankungsstadium ausdrücklich geäußert haben.

derStandard.at: Verändert das Thema Demenz denn grundsätzlich die Diskussion um Sterbehilfe?

Freidl: Auf alle Fälle, denn Demenz wird in Zukunft eine enorme Bedeutung haben: gesellschaftlich, sozial, politisch. Mitbedenken muss man auch ökonomische Argumente.

derStandard.at: Was meinen Sie mit ökonomischen Argumenten?

Freidl: Es wird immer mehr schwer demente Menschen geben. Ich sehe folgende Gefahr: Wenn die Pflegeleistung aufgrund steigender Erkrankungszahlen zu kostspielig wird, könnte es ein ökonomischer Lösungsversuch sein, sich dieser Kosten zu entledigen, indem man sich der Personen entledigt. Ich sehe das Thema aber noch differenzierter: eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe könnte letztlich dazu führen, dass nur Wohlhabende die freie Wahl zwischen kostenintensiver Palliativmedizin und Sterbehilfe offensteht.

Andererseits ist meiner Meinung nach die Wahlfreiheit nicht unbedingt und ständig gegeben. Wenn man ein schwerkranker und dementer Mensch ist, hat man sowieso viel weniger Selbstbestimmung. Gehört Sterbehilfe zum Normalbild, könnten sich Menschen bedrängt fühlen von ihrem sozialen Umfeld. In Studien wurden Menschen, die Sterbehilfe für sich beanspruchen wollen, nach ihren Beweggründen befragt. Ein wiederkehrendes Argument ist, dass sie nicht länger eine Belastung für die Umgebung oder die Familie sein wollen.

derStandard.at: In den Niederlanden gibt es ein Kontrollsystem.

Freidl: Die Frage ist aber, wer einschätzen kann ob Sterbehilfe angebracht ist. In den Niederlanden funktioniert das System so, dass jemand zuerst diesen Wunsch äußert. Der Haus- oder Vertrauensarzt gibt sein Einverständnis, dann muss ein zweiter Kollege Diagnose und Prognose bestätigen und dann darf vollzogen werden. Für mich stellt sich aber die Frage wieso das Ärzte beurteilen sollen. Es kann nicht die Aufgabe der Ärzteschaft sein zu entscheiden, ob jemand sterben darf oder nicht.

Ich stelle außerdem das Kontrollsystem in Frage. Der Fall mit der dementen Frau in den Niederlanden wurde nur lapidar publiziert: Sterbehilfe wird nicht vorher genehmigt, wie das in den Medien oft rüberkommt. Das Ganze ist ein post-hoc Prozedere und wird erst nach dem Tod an diese Kommission gemeldet. Das wissen viele nicht.

derStandard.at: Wo würden Sie die Entscheidungsfindung sehen?

Freidl: Wenn schon, dann im engsten sozialen Umfeld. Doch auch da kann Druck auf den Kranken ausgeübt werden - sei es weil die Familie belastet ist, sei es im Hinblick auf ein Erbe.

derStandard.at: Ist man im Frühstadium der Demenz in der Lage die Entscheidung selbst zu treffen?

Freidl: Es wird immer argumentiert, dass man bei einer Alzheimerdiagnose bald entscheiden müsse ob man später aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte. Ich tue mir schwer damit, weil ich grundsätzlich gegen aktive Sterbehilfe bin. Aber bei Demenz ist es besonders schwierig zu beurteilen. Nehmen wir das Beispiel der lebensverlängernden Maßnahmen: In manchen Patientenverfügungen sind Szenarien angegeben, in denen Patienten später nicht mehr behandelt werden möchten. Ich glaube aber, dass sich diese Beurteilung völlig ändern kann. Man kann sein Bild vom Leben und vom Leben-Wollen in schwierigen Situationen ganz stark wandeln. 

derStandard.at: Bei einer Umfrage aus dem Jahr 2010, die Sie an der Meduni Graz in Auftrag gegeben haben, befürworten 62 Prozent der befragten Österreicher aktive Sterbehilfe. Deutlich mehr als noch vor fünf Jahren. Woran liegt das?

Freidl: Ich glaube, dass das mit einer Geisteshaltung einhergeht, dass man als Individuum mehr machen kann. Die neoliberalen Tendenzen in der Gesellschaft legen ja nahe, dass man absolut über sich selber verfügen darf. Wir haben auch unsere Medizin-Studierenden in Graz zur aktiven Sterbehilfe befragt. 2001 waren 16 Prozent dafür, 2009 schon fast 50 Prozent. In einem Jahrzehnt hat sich die Einstellung extrem gewandelt. Die angehenden Mediziner begründen das mit stärkerer Respektierung der Patientenautonomie und der Zunahme der Fürsorge für Patienten. 

derStandard.at: Nannte man den Befragten Fallbeispiele, war die Zustimmung geringer. Warum?

Freidl: Psychologisch gesehen liegt das daran, dass eine gewisse Identifikation mit einer Person auftritt. Sobald das passiert, geht man einen Schritt zurück. Auch bei Umfragen unter Ärzten, sind es immer jene Ärzte, die in Pflegeheimen tätig sind, die am wenigsten für aktive Sterbehilfe sind. Das ist ein ähnliches Phänomen. In der Studie hat sich außerdem gezeigt, dass Leute, die persönliche Erfahrungen mit Pflege haben, auch weniger dafür sind.

derStandard.at: Die Mehrheit der Österreicher ist laut der Umfrage für aktive Sterbehilfe. Sollte wieder über eine Legalisierung in Österreich diskutiert werden?

Freidl: Ich selbst könnte mir ohne weiteres vorstellen aktive Sterbehilfe haben zu wollen. Das ist aber meine private Position. Die Vorstellung gewisser leidvoller Situationen, kann ich absolut nachvollziehen. Die Frage ist nur: was bedeutet das gesellschaftlich, wenn man Sterbehilfe institutionalisiert?

Für mich überwiegen die Vorteile, dass man aktive Sterbehilfe nicht als Gesetz einrichtet. Was ist mit Wachkomapatienten? Wer entscheidet ob man sie tötet oder nicht? In den Niederlanden gibt es tausend Fälle von nicht freiwilliger Sterbehilfe jährlich - das ist in renommierten Medizinzeitschriften so publiziert. Diese Leute sind nie gefragt worden oder sie konnten sich nicht äußern. Das ist eben die Gefahr, die ich dabei sehe. Ich finde die Nicht-Institutionalisierung ist ethisch gesehen das bessere. 

derStandard.at: Von Befürwortern wird oft argumentiert, dass das Verbot selbstbestimmten Sterbens gegen das Menschenrecht verstößt? Was sagen Sie dazu?

Freidl: Ich bin kein moralisierender Denker in dieser Hinsicht. Nehmen wir an, ich bin in einer so schlechten Situation, dass ich sterben möchte. Ich habe zum Beispiel eine so hohe Querschnittlähmung, dass ich es selber nicht tun kann und würde einen Freund bitten mich zu töten. Dann würde ich das grundsätzlich in diesem individuellen Einzelfall für akzeptabel halten. Ich sehe das Thema, wie schon erwähnt, aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive kritisch.

derStandard.at: Wie spielt da das Thema Menschlichkeit hinein?

Freidl: Die Erlösung von einem ganz schlimmen Leiden ist im Grunde genommen der Fürsorgegedanke. Das Fürsorgeprinzip ist Teil einer guten Medizin - das mag richtig sein, ich halte das aber nicht für ganz akzeptabel. Denn es kann passieren, dass Menschen getötet werden, die sich nicht einmal dazu äußern können. Das ist gleichzeitig eine Verletzung ihrer Autonomie - und da wären wir wieder beim Thema Menschenrecht. 

derStandard.at: Sie haben darauf hingewiesen, dass es einer differenzierteren Diskussion der aktiven Sterbehilfe bedürfe. Was meinen Sie damit?

Freidl: Ich wünsche mir eine profane Argumentation: sachlich, gesellschaftsbezogen, gesellschaftspolitisch, soziologisch, juristisch - mit einer Abschätzung von Konsequenzen und eine Beurteilung der Lage in anderen Ländern, wo es solche Gesetze gibt. Die Diskussion wird viel zu stark von religiösen Gemeinschaften geführt. Die weltlichen Argumente kommen viel zu wenig zum Tragen. (Marietta Türk, derStandard.at, 24.11.2011)