Die ankommenden Flüchtlinge, dicht gedrängt auf dem maroden Boot.

Foto: Thomas Butteweg

Nach der Ankunft herrscht Ungewissheit.

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Eine einheimische Familie versucht, afrikanische Kinder von der Situation abzulenken. Es fällt ihnen sichtlich leichter als ihren Eltern.

Weitere Bilder von der Recherchereise in der Ansichtssache

Foto: Thomas Butteweg

Der Wiener Schauspieler Bernhard Dechant flog Anfang Mai mit acht Kollegen nach Lampedusa, um für das Theaterstück "Boat People" zu recherchieren. Während seines Aufenthaltes kam ein Boot mit 800 afrikanischen Flüchtlingen an Bord auf der Insel an. derStandard.at sprach mit ihm über seine anfängliche Befangenheit gegenüber den Flüchtlingen, die "Scheinmoral" der EU und den Umgang der Bewohner Lampedusas mit der Situation.

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derStandard.at: Was hat Sie bewogen, nach Lampedusa zu fahren?

Bernhard Dechant: Als wir für das Stück recherchiert haben, gab es lange Diskussionen, ob wir überhaupt hinfahren und riskieren sollten, dort als "Flüchtlingstouristen" wahrgenommen zu werden. Ich glaube aber, dass man sich vor Ort eine Meinung bilden muss, wenn man ein solches Thema behandelt. Wir haben uns dann entschlossen, doch zu fahren. Überraschenderweise waren wir im Flugzeug von Palermo nach Lampedusa die einzigen privaten Passagiere, alle anderen waren bewaffnete Sicherheitskräfte.

derStandard.at: Welche Eindrücke hat man dieser Tage, wenn man auf Lampedusa landet?

Dechant: Die Atmosphäre war eigentlich ganz entspannt. Am ersten Abend hat uns beim Essen ein Kontaktmann angerufen und über ein Boot mit Flüchtlingen informiert, das bald ankommen sollte. Ein Pfarrer, NGOs und Hilfsorganisationen, Polizei und Behörden waren dort und gegen ein Uhr früh konnte man einen schwarzen Fleck draußen am Meer erkennen. Es war ein Boot, von dem man den Eindruck hatte, dass vielleicht hundert Leute hinaufpassen, und dann sind dort über einen Zeitraum von drei Stunden 800 Menschen ausgestiegen und versorgt worden.

derStandard.at: Wie war die Reaktion der Flüchtlinge nach der Ankunft?

Dechant: Manche kommen völlig ausgehungert an und können nicht mehr stehen, die werden zu den Krankenwagen gebracht. Es gibt Leute mit Reisekoffern, Junge in Rapper-Montur und zum Teil ganze Familien. Es war eine seltsam-positive Stimmung, ich habe noch nie etwas so Bewegendes erlebt. Die Menschen waren froh, die tagelange Überfahrt überlebt zu haben und voller Hoffnung, manche Polizisten haben geweint. Überhaupt war es für mich sehr beeindruckend, wie die Polizei und die Grenzbehörden mit den Flüchtlingen umgegangen sind. Die leisten enorm viel. Das Bild von der "bösen" Exekutive hat sich auf Lampedusa überhaupt nicht ergeben.

derStandard.at: Hatten Sie Kontakt mit den Flüchtlingen?

Dechant: Normalerweise werden sie sofort mit Bussen in das Aufnahmelager gebracht, das befindet sich in einer Mulde im Inneren der Insel und ist so kaum wahrnehmbar. Ich habe mit einem Taxifahrer in Lampedusa geredet, er hat nach eigener Aussage noch keinen Flüchtling auf der Insel gesehen und wenn man nicht gezielt zur Anlegestelle oder zu den Lagern geht, bekommt man davon in der Regel auch nichts mit. Die Flüchtlinge bleiben meist einen Tag im Auffanglager und werden dann auf das Festland gebracht. Am ersten Tag unseres Aufenthaltes war das Lager aber so voll, dass viele der Männer kurzfristig im Schifffahrtsmuseum neben unserem Hotel untergebracht wurden. Deswegen konnten wir auch mit ihnen reden. Einige Flüchtlinge sind auf uns zugekommen und haben gesagt: "Hey, we're from Nigeria, how are you?" Es haben uns nach ihren Strapazen tatsächlich viele gefragt, wie es denn uns geht. Unsere komische Befangenheit - "dieser arme Flüchtling, dieser arme Mensch" -, die wahrscheinlich völlig unnütz ist, ist dann auch weggebrochen.

derStandard.at: Wie gehen die Bewohner Lampedusas mit der Situation um?

Dechant: In den ersten beiden Wochen nach dem Beginn der Unruhen in Nordafrika sind in kürzester Zeit tausende Menschen auf die Insel gekommen. Weil das Aufnahmelager voll war, haben die Bewohner am Strand provisorische Unterkünfte für die Flüchtlinge aufgebaut, für sie gekocht, Kleidung und Spielzeug gebracht, mit dem die italienischen und die afrikanischen Kinder dann gemeinsam gespielt haben. Von der EU haben sie dafür bis heute keine Unterstützung gesehen. Ein Bewohner hat zu uns gesagt: "Schreibt, was ihr gesehen habt. Schreibt die Wahrheit. Dass wir den Flüchtlingen Handys und Zigaretten gegeben haben, während uns die Politiker im Stich gelassen haben." Wir haben das bewundert. In Österreich wäre die Reaktion auf mehrere tausend neue Flüchtlinge im Land wahrscheinlich ein Wahlergebnis von über 70 Prozent für Strache.

derStandard.at: Es gab Anfang Mai Berichte, dass ein Boot ohne Treibstoff 16 Tage lang im Mittelmeer trieb und 61 der 72 Passagiere verdursteten oder verhungerten, obwohl EU- und NATO-Truppen über deren Lage informiert waren. Ist das glaubwürdig?

Dechant: In unserer ersten Nacht auf Lampedusa ist noch ein weiteres Schiff gekommen, das war fünf Tage am Meer und drei Menschen sind gestorben. Wir haben gehört, dass die italienische und maltesische Küstenwache das Boot auf hoher See hin- und hergedrängt haben, weil es an der Grenze der Hoheitsgewässer war. Schuld waren aber nicht die Besatzungen, das ist Befehl von der Politik. Das widerspricht der Genfer Konvention, jedem EU-Recht und dem Seerecht, einem der ältesten Gesetze der Menschheit, das einfach sagt: Wenn jemand in Not ist, dann rette ihn. Berlusconi hat eine Zeit lang sogar Fischer, die Flüchtlingsboote gerettet haben, als Schlepper anzeigen lassen. Die EU redet sich oft raus, was Schiffe in Seenot betrifft; man wüsste nicht, wo sie sich befinden. In Wahrheit wissen die Behörden aber Bescheid, weil die Flüchtlinge vorm Ablegen bei Kontakten in Europa anrufen und die geben das weiter. Durch Satelliten ist immer ganz genau lokalisierbar, wo sie gerade sind. Auch der Pfarrer und die Hilfsorganisationen auf Lampedusa konnten sagen, dass sich das Boot eine halbe Stunde verspäten würde. Es herrscht momentan eine wahnsinnige Verdrängungspolitik in Europa, und ich verstehe nicht, wie so etwas sein kann.

derStandard.at: Sind sich die Flüchtlinge bewusst, in welche Gefahr sie sich begeben?

Dechant: Die meisten schon. Manche wollen sich allerdings überhaupt nicht in diese Gefahr begeben, werden von Gaddafi aber einfach verschleppt und gegen ihren Willen auf Boote gepfercht. Er will Europa mit dem Flüchtlingsstrom unter Druck zu setzen. Noch absurder wird das, wenn man weiß, dass Gaddafi von der EU viel Geld bekommen hat, um in Libyen Flüchtlingslager zu bauen und die Massen von Europa fernzuhalten. Daraus sind Arbeitslager geworden, die Menschen schuften dort wie Sklaven für reiche Libyer, meistens zwei Jahre. Dann haben sie sich quasi freigekauft, um auf das Schiff oder Boot zu kommen. Davon profitiert Gaddafi noch einmal, weil er alte Boote einkauft und teuer an die Flüchtlinge weiterverkauft. Ich finde es wichtig, die Scheinmoral der Europäer zu zeigen, die Gaddafi jahrelang unterstützt haben und plötzlich über Nacht als Verrückten bezeichnen. Und zu zeigen, was in unserem "demokratischen" Namen durch ihn für Gräuel passieren.

derStandard.at: Das sollte auch im Theaterstück untergebracht werden?

Dechant: Ja, wir haben Videos für das Stück aufgenommen, in denen ich einen überspitzten EU-Gaddafi gespielt habe, um das jahrelange Hofieren Gaddafis durch die EU zu symbolisieren. Wir haben auch überlegt, diese Figur in einer Szene im kompletten Kostüm aus dem Meer steigen und in Italien um Asyl ansuchen zu lassen. Obwohl mich in dieser Aufmachung kein Flüchtling zu Gesicht bekommen hatte, haben einige österreichische Medien einen Skandal daraus konstruiert und von einer Massenpanik unter schockierten Flüchtlingen geschrieben. Über diese mediale Manipulation habe ich auch mit dem Vizebürgermeister des Ortes gesprochen. Er hat gesagt: "Unser Problem ist nicht die Migration. Die hat es immer schon gegeben. Das Problem, das Lampedusa wirklich fertig macht, ist diese Terrorpresse, die von Tuberkulose und Leichenteilen im Meer schreibt." Die Insel lebt heute vom Tourismus und der ist ihnen wegen der Medienberichte weggebrochen, die Auslastung beträgt momentan zehn Prozent.

derStandard.at: Was haben Sie außer dem konstruierten Skandal von der Reise mitgenommen?

Dechant: Ich habe im Vorfeld sehr viel über die Situation gelesen und angesehen, aber wenn man dort ist, ist es etwas ganz anderes. Das sind Bilder, die ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gesehen habe und nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Man beginnt, über manche Dinge anders nachzudenken. Es verschieben sich die Wertigkeiten, wenn man mit eigenen Augen sieht, wie Menschen auch leben müssen. Viele Premierenbesucher sind nach der Aufführung zwei Stunden sitzen geblieben und haben mit uns diskutiert, über die Vorurteile gegenüber den Flüchtlingen - "Wir kommen, euch zu fressen und nehmen euch die Jobs weg" - und die Zusammenhänge zwischen unserer Wirtschaftspolitik und der Lage dort. Es lässt sich nicht leugnen, dass wir zum Teil die dortige Landwirtschaft und die Märkte kaputtmachen, weil es keine Schutzzölle mehr gibt. Durch die Konzerne hat sich seit der Kolonialzeit nicht viel geändert.

(Michael Matzenberger, derStandard.at, 10.6.2011)