Betrifft: "Wirklich Hitlers erstes Opfer?" von Lucile Dreidemy und "Dollfuß verstehen" von Kurt Bauer (DER STANDARD, 25. 7. 2009)

I
Geschichte eines Buchtitels

Der STANDARD hat dem Tod meines Großvaters Engelbert Dollfuß vor 75 Jahren eine ganze Seite gewidmet. Wenn ich aus Platzgründen nur auf ein Detail eingehe, bedeutet das natürlich nicht, dass ich mit dem gesamten restlichen Text einverstanden wäre oder mir nichts dazu einfiele.

Meine Mutter, Eva Dollfuß, ist 1993 gestorben. Das Erscheinen ihres Buches 1994 hat sie nicht mehr erlebt. Von dem Titel Mein Vater: Hitlers erstes Opfer, den es vom Verlag erhielt, hat sie nie etwas erfahren. Als mir der Verlag mitteilte, dass das Buch unter diesem Titel erscheinen würde, sprach ich mich – ungefragt – gegen den Titel aus. Aus zwei Gründen: Erstens wusste ich natürlich, dass es schon vor dem Tod meines Großvaters Opfer des Nationalsozialismus gegeben hatte – auch in Österreich. (Diese Opfer kommen auch in dem Buch vor – schon deshalb schien mir der Titel nicht passend. Sie sollten natürlich nicht in irgendeinen "Schatten" gestellt werden, wie in dem Artikel angedeutet wird – im Gegenteil!)

Zweitens wollte meine Mutter eben nicht den Tod ihres Vaters in den Mittelpunkt stellen, sondern sein Leben und seinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, den man vom damaligen Staatswiderstand Österreichs (dem tatsächlichen, nicht einem "angeblichen") nicht trennen kann. Der Verlag bestand jedoch darauf, dass er allein das Recht habe, darüber zu entscheiden. Dafür gab es sicher nur einen Beweggrund: Man hielt den Titel für zugkräftig und verkaufsfördernd – und hatte recht. Das Buch war bald vergriffen.

Mir schien diese Richtigstellung notwendig – angesichts der Gedankengebäude, die hier um einen Buchtitel herum errichtet werden.

Was das Buch mit Bundespräsident Waldheim zu tun haben soll, habe ich nicht verstanden. Aber ich muss auch nicht alles verstehen. (Claudia Tancsits, Dollfuß-Enkelin)

II
Hitler verstehen?

Postings sind ein bemerkenswertes Phänomen der neuen Mediengesellschaft. Exit-Polls für Autoren sozusagen. Mit meinem jüngsten Dollfuß-Kommentar konnte ich locker die Dreihundertergrenze überspringen. Manche Postings sind klug, regen zum Nach- und Umdenken an. Andere sind nicht ganz so klug. Und noch mal andere noch sehr viel weniger klug ... diplomatisch gesagt. Als Autor sollte man das alles grundsätzlich nicht persönlich nehmen.

Um es nochmals deutlich zu sagen: Dollfuß war ein Unglück; als Politiker fehlte ihm schlichtweg das Niveau, um das Land in der extrem schwierigen Situation der Jahre 1932 ff. zu führen. Immerhin versuchte er, was andere längst aufgegeben hatten. Hartnäckigkeit, Verbohrtheit, übersteigertes Sendungsbewusstsein gehörten zu seinen wichtigsten Charaktereigenschaften. Und im Unterschied zu den – Seipel ausgenommen – christlichsozialen Provinzgranden und Betonköpfen, die die Regierung zuvor geleitet hatten, eignete ihm ein Mindestmaß an Charisma.

Schwere Fehler der Sozialdemokraten haben dazu beigetragen, den laut Charles Gulick "unbedingten Demokraten" Dollfuß in eine autoritäre Richtung zu drängen. Dazu gäbe es noch viel zu sagen. Den Argumentationen christlichsozial-konservativer Historiker kann ich in dieser Hinsicht jedenfalls nur beipflichten. Schuldhaft verhielten sich ab März 1933 freilich die Christlichsozialen. Deshalb allerdings Dollfuß mit Hitler oder Stalin gleichzusetzen, das ist – wenn ich mich vorübergehend auf das virtuelle Stammtischniveau mancher Poster begeben darf – nicht nur bescheuert, das ist Verharmlosung der übelsten Sorte.

Poster "utility" fragt: "Was kommt als Nächstes: Hitler verstehen?" – Verdammt, ja! "Es giebt", heißt es bei Johann Gustav Droysen, "mancherlei Ansicht über die Art und Aufgabe der historischen Studien. Vielleicht darf man Alles zusammenfassend sagen, ihr Wesen sei forschend verstehen zu lernen." Und ein zeitgenössischer Kollege, Ernst Hanisch, meint: "Es gibt eine Historisierung, die auf die Form des distanzierenden Verstehens zielt: Verstehen als Voraussetzung jeder Erklärung. (...) Das heißt konkret: mit den Quellen in einen produktiven Dialog treten und seine eigene Moral, sein eigenes Verständnis von Politik in Frage stellen lassen. Das Projekt der Aufklärung umfasst nicht nur die Aufklärung der anderen, es muss auch als Selbstaufklärung greifen." (Kurt Bauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft/DER STANDARD, Printausgabe, 01./02.08.2009)