Dollfuß wird, so scheint es, für die Nachwelt erst ab März 1933 interessant: Als er Schritt für Schritt die Demokratie ausschaltete, als er der Sozialdemokratie mit bemerkenswerter Tücke den Garaus machte, als er sich an Mussolini anhängte und von diesem mit "Ratschlägen" versorgen ließ, als er mit Hitler öffentlich in den Clinch geriet und zugleich hinterrücks mit ihm ins Geschäft zu kommen versuchte. Im März 1933 war Dollfuß freilich schon zehn Monate Kanzler; für einen Regierungschef der Ersten Republik Österreich vergleichsweise lange. Der Schlüssel zum autoritären Politiker Dollfuß liegt gerade in dieser ersten Periode seiner Kanzlerschaft.

Bei der Ernennung zum Bundeskanzler am 20. Mai 1932 galt Dollfuß den Sozialdemokraten als durchaus verständiger politischer Partner, als aufrechter Demokrat, als einer, mit dem man reden und Kompromisse finden konnte. Die Christlichsozialen dachten sich den Landwirtschaftsexperten als Übergangslösung in einer verfahrenen Situation, als jemand, der interimsmäßig die laufenden Geschäfte besorgen sollte, so gut es eben ging.

Allein, diese laufenden Geschäfte waren erdrückend. Im Mai 1931 war die Creditanstalt zusammengebrochen, was eine europaweite Bankenkrise ausgelöst und die ohnehin schon darbende österreichische Volkswirtschaft an den Rand des Abgrunds getrieben hatte. Zwei Regierungen waren über der Frage der notwendigen Sanierung zerbrochen.

Dollfuß, der Lückenbüßer, war es schließlich, der mit erstaunlicher Hartnäckigkeit und einer denkbar knappen parlamentarischen Mehrheit von einer Stimme durchdrückte, was andere längst aufgegeben hätten - die Aufnahme einer dringend notwendigen neuerlichen Anleihe des Völkerbundes ("Lausanner Anleihe"), die nach dem CA-Debakel unumgänglich geworden war. Dass die Sozialdemokraten sie ablehnten, muss als verantwortungslos, ja dumm bezeichnet werden.

Dazu kam: Nicht nur die Nationalsozialisten, auch die Sozialdemokraten drängten in dieser Periode, weil sie sich eine Abwahl der christlich-sozialen Regierung erhofften, vehement auf Neuwahlen - und das zu einem Zeitpunkt, als das von einer verheerenden Wirtschaftskrise geschüttelte Deutsche Reich von einem Wahlkampf zum anderen taumelte und Hitler deutlich vernehmbar an die Tore der Macht klopfte.

Dollfuß geriet mit seinem ohnehin zweifelhaften Koalitionspartner, dem faschistischen Heimatblock, in eine Situation, in der nur noch ein Einbetonieren in starren ideologischen Positionen möglich war.

Pyrrhus Dollfuß ging aus den Kämpfen und Krämpfen des Jahres 1932 als ein anderer hervor. Seine antiparlamentarischen Instinkte setzten sich zunehmend durch. Diskussionen, Debatten, offene Kritik, Abstimmungen, das Aushandeln von Kompromissen - all das liebte Dollfuß nicht, wusste nicht damit umzugehen, nahm Anwürfe persönlich, reagierte mit Wut, Enttäuschung, Klagen, Depression, neigte mehr und mehr dazu, sich Rat nur noch dort zu holen, wo man ihm kritiklos zustimmte.

Bezeichnend ist eine Jeremiade, die er Mitte 1933 im christlichsozialen Klubvorstand losließ: "Nichts hat mich so deprimiert, wie der Geist des Skeptizismus, ganz negativ mit einem Unterton, den ich deutlich spüre. Mir vergeht die Freude daran. Es ist das Niederschmetterndste der Druck, mit dem ich aus dem Klub weggehe." Leopold Kunschak erklärte daraufhin begütigend, dass es ihm zu Beginn seiner politischen Laufbahn ebenso ergangen sei. Dem Kanzler fehle eben die "parlamentarische Kinderstube".

Charakteristisch für Dollfuß, hat Gerhard Jagschitz in einer klarsichtigen Studien geschrieben, sei eine "Mischung von Brutalität in der Anwendung der staatlichen Machtmittel und politischem Jonglieren". Seine Fähigkeiten hätten einfach nicht ausgereicht, die wahren politischen Kräfte zu durchschauen und richtig einzusetzen.

Dollfuß - so ein selbst nach 75 Jahren noch vorläufiges Resümee - war kein Böser, vielleicht ein Schlechter, vermutlich nur ein Mittelmäßiger. Der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit. (Kurt Bauer/DER STANDARD, Printausgabe, 25./26. 7. 2009)